Das Herz der Welt

Ian Baker hat geschafft, was niemandem vor ihm gelang: Er fand das mystische Paradies des alten Tibet und erkundete den letzten weißen Fleck auf unseren Landkarten. Sein Buch „Das Herz der Welt“ schildert die abenteuerlichste Expedition der letzten Jahrzehnte, die außergewöhnliche Entdeckung eines der unzugänglichsten Orte der Welt und eine spirituelle Reise in den inneren Kern des Buddhismus.

Von jeher verehren die Tibeter heilige Orte und Naturdenkmäler wie den auch als „Türkis- See“ bekannten Yamdrok-Tso, der als einer der drei heiligen Seen Tibets gilt. Er liegt etwa 100 Kilometer südwestlich von der Hauptstadt Lhasa und wird von den Bergen Mt. Kampala, Mt. Nyinchenkhasa, Mt. Chetungsu und Mt. Changsamlhamo flankiert. Der Legende nach war der Yamdrok-Tso einst eine Dakini, eine tantrische Göttin, die zur Erde herabstieg, gefolgt von ihrem Gatten, der sich in den Mt. Kampala verwandelte. Es gibt dutzende von kleinen Inseln im des See, die zahlreichen Vögeln als Brutplatz dienen und im Sommer von den tibetischen Schafzüchtern als sicherer Weidegrund für ihre Herden genutzt werden.

Tibet ist ein Land der Geheimnisse, nicht nur für uns Menschen im „aufgeklärten“ Westen, die glauben, alles könne rational erklärt werden. Auch für die Tibeter ist es ein Land der Geheimnisse, was vor allem in den mythischen Geschichten über die „Beyüls“, die „verborgenen Länder“ zum Ausdruck kommt.

Der Yamdrok-Tso ist eine wichtige Wallfahrtsstätte für die Tibeter. Jeden Sommer strömen Scharen von Pilgern an den heiligen See, um zu beten. Die Pilger glauben, dass das Wasser des Sees verjüngende Eigenschaften hat, die Langlebigkeit fördert und die Kinder klüger macht. Viele Tibeter besuchen den See auch, wenn wichtige Entscheidungen anstehen, um hier zu meditieren.
Das kleine Bild zeigt das Sanding-Kloster im Süden des Sees. Es ist der Sitz des einzigen hochrangigen weiblichen Lamas in Tibet.

Tenzin Gyatso, der Dalai Lama, berichtet in seiner Einleitung zu Ian Bakers Buch „Das Herz der Welt“, dass vor Jahrhunderten Schriften entdeckt wurden, die diese verborgenen Länder beschreiben. Sie werden Padmasambhava zugeschrieben, dem als Guru Rinpoche verehrten Meister des 8. Jahrhundert, der maßgeblich an der Einführung des Buddhismus in Tibet beteiligt war. In ihnen ist von paradiesischen Tälern die Rede, die ein Pilger nur unter ungeheuren Strapazen erreichen kann. Strapazen, die sich lohnen, denn es heißt, dass man dort außerordentliche Erfahrungen und rasche spirituelle Fortschritte machen kann.

Der Dalai Lama schreibt: „Eines der berühmtesten dieser verborgenen Länder liegt im Gebiet der Tsangposchluchten in Südosttibet. Man nennt es Beyül Pemakö, ‚das lotosförmige verborgene Land‘. Viele sind dorthin gepilgert, um sein innerstes Zentrum zu suchen.“ Tibetische Pilger suchen bis heute den geheimen Ort, der ein verborgener Durchgang an einem gewaltigen Wasserfall des Tsangpo sein soll – eine Pforte in ein Paradies auf Erden, in das sagenumwobene Shangri-La. Auch westliche Entdecker suchten seit dem 19. Jahrhundert verbissen nach dem geheimnisvollen, gigantischen Wasserfall des Tsangpo. Vergebens. Als auch die bislang letzte Expedition, veranstaltet von den Briten im Jahre 1924, scheiterte, erklärte die „Royal Geographic Society“ die Wasserfälle zur „Legende der Geographie“.

Vom Dach der Welt ins Herz der Welt: Das Bild links zeigt Ian Bakers Gefährten Ken Storm beim Abseilen zum Verborgenen Wasserfall Dorje Pagmos. Legenden zufolge befindet sich hier die Pforte zum Paradies. Ganz unten links: Bewohner des Dorfes Bayu in der Nähe des Verborgenen Wasserfalls.

Sie blieben ein weißer Fleck auf der Landkarte, bis sich vor zwanzig Jahren der Buddhismus-Experte und Weltklasse- Kletterer Ian Baker aufmachte, nach der Wahrheit hinter den Legenden zu suchen. Von 1993 bis 1998 unternahm er acht entbehrungsreiche Expeditionen in die unzugänglichen Schluchten des Tsangpo, orientiert an den Berichten früher britischer Entdecker und den Geschichten tibetischer Lamas, die das Gebiet Jahrhunderte zuvor betreten hatten. Naturgewalten zwangen Baker mehrmals zur Umkehr – aufgegeben hat er jedoch nie, denn sein Glaube an das Paradies der Tibeter war unumstößlich.

Tradition und Moderne sind im heutigen Tibet kein Gegensatz. Links: Junges Mädchen mit Gebetsmühlen. Daneben: Buddhistischer Mönch telefoniert unter den Gebetsfahnen.

Als Baker weltweit mit der Nachricht Furore machte, den mächtigen Wasserfall gefunden zu haben – den heiligen Gral westlicher Entdecker und tibetischer Pilger – meldete die „National Geographic Society“, diese Entdeckung habe ein Rätsel gelöst, das „über hundert Jahre lang die Quelle von Mythen und Spekulationen“ gewesen sei.

Dabei ist Ian Bakers Buch „Das Herz der Welt“ genauso sensationell wie seine Entdeckung. Es ist ein Abenteuerbericht der Extraklasse und gleichzeitig eine kurzweilige und doch tiefgründige Einführung in den tibetischen Buddhismus. Es ist nie belehrend und doch ungemein lehrreich und mit seinen 635 Seiten ist es lang, aber nie langweilig. Baker nimmt uns mit auf seine Reise nach Pemakö und in die verborgenen Länder Tibets. Man kann das Rauschen des mächtigen Tsangpo, den „Donner der Schöpfung“, förmlich hören. Man fiebert mit, bis zur letzten Seite – und irgendwie fühlt man, dass man dem Paradies einen Schritt näher gekommen ist. Um es mit den Worten von Richard Gere zu sagen: „Ian Bakers erstaunliche Reise zu den verborgenen Wasserfällen des Tsangpo ist in Wirklichkeit eine Pilgerfahrt zu unserem wahren Selbst.“

Ian Baker hat lange Zeit in Kathmandu, Nepal, gelebt und beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren intensiv mit dem tibetanischen Buddhismus.

BUCH-TIPP
Baker, Ian
Das Herz der Welt
638 Seiten, € 24,90