Altai

altai01Wie kaum ein anderer Teil der Erde steht der sibirische Altai für Geheimnis und Unzugänglichkeit. Unerforscht und Welten entfernt scheint er. Das mag daran liegen, dass es Ausländern noch nicht lange erlaubt ist, Sibirien frei zu bereisen. Der Altai ist voller Transformations- und Heilkraft. Beim Betreten dieser magischen Region ist es, als ob man in ein Schwellenreich tritt, und auf einmal fi ndet die weitere Reise auf vielen verschiedenen Ebenen statt.

Es gibt die alltägliche Wirklichkeit des Altai mit den Bergen, der Taiga, den Flüssen, aus denen man trinken kann, den unzähligen Quellen, Blumenwiesen voller Zauber und der Steppe, die den Raum so weit macht. Doch die Schleier zu anderen Welten sind dünn im Altai und so fi ndet man leicht den Zugang zu Ebenen, die verloren schienen. Der spirituelle Altai ist offen und bereit, Heilprozesse zu unterstützen. Wie ein Gefl echt aus Lichtfäden pulsieren seine Energien.

altai02Ins Schwellenreich
Von Novosibirsk aus geht die Reise über den Tschuijsky-Trakt durch das weite Russland nach Gorno Altaisk, der Hauptstadt der Republik Altai. Das Land, vielfältig und wunderschön, sanft, rau, taigagrün, steppenbraun. Das Altaigebirge, zweitausend Kilometer lang, an den Grenzen von Kasachstan, China, der Mongolei und Russland- Sibirien. Ein Klang voller Magie. Altai, Goldene Berge, von dem mongolischen Wort altan, „golden“. Die Tiefenbedeutung laut altaischer Weisheitslehren ist „meine geheimen inneren Impulse“.

Der Altai ist geprägt durch den Wechsel: wogende Highlands, feenländisch anmutende Birkenwälder, mäandernde Flüsse, Farne, Edelweiß- und Enzianwiesen, die Zedern in der Taiga, Kiefern, mongolische Steppen. Er ist ebenso das Land der Schneeberge, der Gletscher, wie der Aktrú, und der Hochplateaus, wie das Ukok-Plateau. Adler, Bären, Wölfe und Schneeleoparden sind hier zu Hause. Belucha ist mit 4500 Metern die höchste Erhebung. Dort entspringt die mächtige Katun.

Birken, Blumenwiesen, Buchweizenfelder in zartem Weiß, dunkles Taigagrün. Am Straßenrand Menschen mit Körben und bunten Plastikeimern voller Beeren, Pilze und Gemüse. Der sibirische Sommer ist kurz und reichhaltig, er bringt die Fülle der Wälder, der Datschas, er hat die Herden gut genährt und groß werden lassen – die Schätze der Erde schenken sich. Mit der säuerlichen Borschtschsuppe den Geist des Landes in sich hineinlöffelnd, mit den Pfannkuchen die Zuversicht nährend, mit dem Tschai, dem russischen Tee, die Gedanken zum Fließen bringend – so nähert man sich auf der langen Straße zwischen Sibirien und der Mongolei der autonomen Republik Altai.

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Weisheit der Wildnis
Durch all die schwierigen Zeiten hindurch hatten die Altaier versucht, ihre Wurzeln zu bewahren. Sie verehren die Gottheiten in der Natur. Berge, Flüsse, Bäume und Quellen sind Tempel für die universelle Kraft. Bergregionen, vor allem Pässe, sind heilige Orte, an denen man nur ein Gast ist. Überall in den Bäumen hängen weiße Bänder. Sie sind Ausdruck für den Respekt der Altaier vor der Natur, vor den Wesenheiten und Kräften der Plätze. Im Kyjra-Ritual werden an Orten des Gebets und der Heilung oder bei Steinsetzungen weiße Stoffstreifen in die Bäume gehängt oder in der Steppe an in die Erde gesteckte Zweige geknotet. Mit den Streifen werden Gebete eingebunden, die der Wind zu den Geistern trägt. Der Respekt vieler Altaier vor der Natur, ihr Wunsch, sie zu bewahren, ihr Erleben der Verbindung von innerer und äußerer Welt berühren. Spiritualität und das Erkennen der Natur als heilig sind untrennbar miteinander verknüpft. In dem Maße, in dem jeder Teil dieser Erde heilig wird, wollen wir sie bewahren, werden wir sie lieben und ihre Lebendigkeit hüten, sagen die SchamanInnen.

altai06Spiegel der Seele
Das Ziel vieler SchamanInnen ist es, heilige Plätze im Altai wieder zu beleben und zu schützen. Der Altai ist so reich an heiligen Quellen mit Heilwassern und Kraftplätzen, die gute kosmische Energien anziehen. Dort zu verweilen schenkt viele Einsichten. Manche der heiligen Plätze sind Orte der Versöhnung, andere dienen der Herzöffnung oder machen es möglich, in andere Wirklichkeiten zu schauen. Dort, wo Himmel und Erde einander berühren, Licht und Finsternis sich umarmen, öffnet sich ein Weg, der hinter die Wut, den Schmerz, die Trauer führt. Der Altai lässt auf einer sehr tiefen Ebene verstehen, was es heißt, etwas zu würdigen, zu heiligen, heil werden zu lassen. So fern und fremd der Altai vielleicht scheint, so sehr kann er zum Seelenland werden. Er berührt tief und die Heilschritte können sanft und schnell getan werden. Wenn Reisende sich austauschen, stellen sie oft fest, dass der Altai für alle Spiegel ist, in dem sich sowohl das eigene Schattengesicht wie auch das eigene Potenzial zeigt. Schnell werden die dunkelsten und die hellsten Seiten sichtbar.

altai11Die große Schamanin
An der Grenze zu Kasachstan, in der endlosen Taiga liegt das geheimnisvolle Belowodje, einer der Eingänge zu Shambhala. Dort kommt man in Berührung mit Belucha, der großen Berggöttin, in der das Herz der Göttin Umai schlägt. Sie ist die zentrale Kraft des Altai, die große Schamanin. Ihr Segen fl ießt in die Pfl anzen und Steine, er kommt durch das Essen, die Kräutertees, das Wasser zu den Menschen. Hier ist die Kraft der Urschamanin ganz wach, die Wildheit, die Ungezähmtheit, in der so viel Heilkraft steckt. Die Vertrautheit mit den Gesetzen der Wildnis kann erinnert werden, an den Sonnentagen, den Regentagen, durch den Schnee in den Höhen, mit den Winden und dem Nebel – den Gedanken der spirits des Altai. Der Gesang der Zedern ist zu hören, die uralte Wurzelkraft der Wildnis singt sich zu den Menschen.

altai04Die Prinzessin des Ukok
Der Tschuijsky-Trakt führt die Reisenden weiter und tiefer in den Altai hinein, an die Grenze zu China und der Mongolei, ins Steppenland. An Kurganen, steinernen Hügelgräbern vorbei, geht es immer höher in die Berge hinein zum Ukok- Plateau, einem der heiligsten Plätze. Murmeltiere, Adler, Pferde. Einzelne Jurten stehen in der eindrucksvollen Berglandschaft. Hirten reiten durch die Weiten des Hochaltai. Türkis schimmernder Schnee, Yaks, Ziegen. Dort ist das Grab der Prinzessin des Ukok, einer Kriegerin- Priesterin aus dem Volk der den Skythen nahen Pazyryk. Sie wird von den Altaiern als Emanation der Göttin verehrt.

Steppenreiterinnen
Die Steppentage in den Jurten sind Tage der Weite, des Windes. Wolkenschatten und Lichtspiele ziehen über die ockerbraune Landschaft. Der Duft der kleinen Pfl anzen ist intensiver als sonstwo. Artemisiadüfte erinnern ans Mutterland und erzählen von Heimat. Der wilde Atem der Steppe betört, die Kraft der Steine auf der rauen Steppenhaut ist zu spüren. Schon längst sind die Pferde Teil des Lebens der Reisenden geworden. Die freien Pferde tragen eine Urerinnerung. Steppenreiterinnen, die schweigend miteinander reiten, an Feuern lagern, Lieder für die Pferde singen, mit ihnen sprechen. Den Kopf an den warmen Pferdekörper lehnen, Hufgeräusche, Schnauben, langsam durch das Land traben, ein anderes Fortbewegungstempo annehmen. Durch die Wälder reiten, in die Abendsonne hinein, durch Herbstlaub, im Schnee, mit den Winden durchs Frühlingsland. Die Herden beobachten, ihr Gefüge, die Umsicht der Leitstute, ihre Kraft und Bewegung. Sie verkörpern das Thema „Lebenskraft“ in seiner schillernden Vielfalt. Von den Tieren, den Pfl anzen, Steinen, den Wassern, den spirits, den SchamanInnen kann man sich tief in die Erinnerung führen lassen.

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An den Feuern des Altai
Pferdepflöcke, Feuer mit riesigen Kesseln, Stände, Essenszelte … eindrucksvoll, bunt und schön, verstehen es die Altaier zu feiern. Die prächtigen Gewänder, die wunderbaren alten Gesichter, ihre Würde, viele Bilder bereichern die Wege im Altai. Es gibt noch Alter hier. Stolz und schön reiten alte Frauen auf ihren prachtvollen Pferden über die Wiesen und weiten die Welt der Reisenden.

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Überall brennen die heiligen Feuer, an die Reisende eingeladen werden, verköstigt, an denen die Zeremonien der SchamanInnen stattfinden. Das Feuer ist zentraler Punkt in den Ails, den altaischen Holzhäusern, den Jurten und Tschadirs. An den heiligen Feuern werden Geschichten ausgetauscht, werden Verträge geschlossen, wird geheilt. Im Haus der Kaitschis, derjenigen, die das Geschenk des „Kai“, des Kehlkopfgesangs erhalten haben, werden Klangräume voller Heilkraft geöffnet. Die Kaitschis erzählen singend von ihrem Land, dem Leben, den Reisen, Legenden und Mythen. Sie sind Wissenserhalter, bewahren die Weisheit der Ahnen für zukünftige Generationen. Oft ist die Gabe des Kai mit Hellsichtigkeit verbunden sowie mit der Fähigkeit, mit der Geisterwelt zu kommunizieren. Sie sind singende SchamanInnen, MittlerInnen zwischen Vergangenem und Zukünftigem, Ahnen, Geistern und Menschen. Sie bringen die Töne der Erinnerung. Und wenn sich die Seele daran erinnert, wer sie eigentlich ist, wird sie heilen.

Wandelland
Der Altai ist Schmelztiegel vieler Völker, uraltes schamanisches Wissen ist hier zu Hause und die Natur ist teilweise noch völlig unberührt. Noch. Es braucht einen weisen Umgang mit den kostbaren Ressourcen, der Natur. Alle, die der großen spirituellen Kraft des Altai begegnen möchten, die in dieses Land reisen, um zu wachsen, um ihre Seele singen zu hören, werden willkommen sein und dazu beitragen, dass das Bewusstsein für die Schätze dieses Teiles der Erde wächst, und sie werden den Altai darin unterstützen, dass er im Bewusstsein der Politik Wertschätzung bekommt.

Die Kräfte des Altai sind offen und bereit, zu stärken, zu ermutigen, zu inspirieren, Wachstum zu fördern. Alle, die kommen, werden verändert, verwandelt und reich beschenkt nach Hause gehen.

altai13Cambra M. Skadé
ist Künstlerin, Autorin, Dozentin, Reisende. Zwei Sommer verbrachte sie im sibirischen Altai, auf den Spuren der Taigaschamaninnen. Die Reise wurde zu einer Seelenreise, einer Erinner- und Wandelreise. Darüber berichtet sie in ihrem neuen Buch „Am Feuer der Schamanin“.

Weitere Informationen unter:
www.cambra-skade.de

BUCH-TIPP
Am Feuer der Schamanin
280 Seiten, € 24,90
BUCH-TIPP
Töchter der Mondin
160 Seiten, € 19,95