Wir leben in einer Zeit der Veränderungen, Umwälzungen und grundlegender Erneuerung auf allen Ebenen. Wie selten zuvor sind wir mit Herausforderungen konfrontiert, die wir bewerten, aushalten und abwehren müssen. Wie unsichtbare Fäden beeinflussen verschiedenste Faktoren unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit und Vitalität.
Wissenschaft und Schulmedizin vollbringen immer neue „Wunder“ mit neuen Pharmazeutika und neuer High-Tech. Sie sind als therapeutische Grundlage von größter Wichtigkeit und unentbehrlich, wenn es darum geht, mit Krankheiten diagnostisch und therapeutisch verantwortungsvoll umzugehen.
Doch ist die Schulmedizin alleine in der Lage, den veränderten und ständig wachsenden Bedürfnissen des kranken Menschen ausreichend gerecht zu werden? Verlangt nicht die Ethik der Medizin auch Flexibilität und Offenheit, wenn es darum geht, aus dem Gesundheitsverständnis und Heilwissen anderer Kulturen neue Impulse zu bekommen? Die Beschäftigung mit Ethnomedizin kann einen Beitrag leisten für neue Perspektiven und Impulse die das medizinische Denken und Handeln auf allen gesellschaftlichen Ebenen bereichern.
Medizingeschichte unseres Planeten
Ethnomedizin erforscht und vergleicht die verschiedenen Medizinsysteme der Völker und Zeiten. Die Erforschung von Heilpflanzen, Heilmitteln und Heilkonzepten anderer Völker und Kulturen bringt viele erstaunliche, verwunderliche, faszinierende, aber auch befremdliche Dinge zum Vorschein. Meist verbergen sich hinter den sichtbaren Heilweisen interessante und äußerst komplexe Wirklichkeitskonzepte und Weltbilder, die bei näherer Betrachtung neue Perspektiven für das medizinische Denken und Handeln eröffnen. Die Forschungsbereiche der Ethnomedizin umspannen kulturübergreifend das medizinische Wissen von örtlichen Ärzten bis hin zu den traditionellen Heilkundigen in Gegenwart und Vergangenheit.
Aktuelle Schwerpunkte der Ethnomedizin bilden die Integration kulturfremder Krankheitsvorstellungen und Behandlungskonzepte und die Neubewertung der Volksmedizin anderer Kulturen, nicht als alternative Medizin, sondern als Teil der Medizin unseres Planeten. Eine riesige Schatztruhe öffnet sich, betrachtet man, wie andere Kulturen mit Gesundheit und Krankheit umgehen.
Tibets sanfte Medizin
Tibet war schon immer eines der entlegensten Gebiete der Erde. In den magischen Schneebergen auf dem „Dach der Welt“ ist man den Göttern nah. Dem Himmel am nächsten konnte sich fernab vom Rest der Welt über die Jahrtausende ein hochentwickeltes Heilsystem entwickeln. Gespeist aus Elementen des Ayurveda und der chinesischen Medizin und durchdrungen von der buddhistischen Weisheitslehre hat sich eine Volksheilkunde mit besonderem Charakter entwickelt, hinter der sich eine Schatztruhe voll mit allem Wissen über das unsichtbare Netzwerk und die Faktoren, die unser Leben steuern, verbirgt.
Zunehmendes Interesse finden die ausgefeilten Diagnosemethoden wie etwa die tibetische Puls- und Zungendiagnose, mit der sich äußere (z.B. klimatische Einflüsse) und innere Krankheitsauslöser (z.B. emotionale Blockaden) bereits im Frühstadium diagnostizieren lassen, so dass durch gezieltes Gegensteuern und rechtzeitige Behandlung ein Krankheitsausbruch verhindert werden kann.
Viele der tibetischen Behandlungsformen basieren auf einer besonderen Form der Akupunktur und Aku-Moxa- Therapie, die sich besonders bei der Behandlung von psychosomatischen Störungen, Ängsten und Depressionen, aber auch bei Schmerzzuständen aller Art hervorragend bewährt hat.
Moxa – mit Hitze Feuchtigkeit und Wind vertreiben
Pasang ist 35 Jahre alt. Nach einer langen Bergfahrt auf der Ladefläche eines Kleinlasters klagt er über plötzlich einsetzende starke Nacken-, Kopf- und Halsschmerzen sowie über Fieber mit Schüttelfrost, Benommenheit und Augenbrennen. Die Beschwerden treiben ihn zum tibetischen Arzt. Dieser diagnostiziert über die gespannte Qualität des linken handnahen Pulses des Mannes eine Wind-Kälte- Krankheit. Wind und Kälte haben den Abwehrschild des Körpers durchbrochen und müssen nun durch Hitze vertrieben werden. So beginnt der Arzt mit einer speziellen Aku-Moxa-Therapie.
Dabei werden von ihm Akupunkturpunkte durch Abbrennen von getrockneten Blättern der Artemisia vulgaris (Beifuß) angewärmt. Am freien Ende einer speziell geformten Akupunkturnadel wird ein Stück eingerolltes Moxakraut befestigt und angezündet. Die Hitze wird von der Nadel in die Tiefe und damit in die Meridiane geleitet. Die Hauptanwendungsgebiete der Moxibustion sind Wind-, Kälte- und Feuchtigkeitserkrankungen sowie allgemein schwächende, chronische Erkrankungen, besonders jedoch alle akuten und chronischen Schmerzzustände.
Bereits nach der 30-minütigen Sitzung hat der Kopfschmerz etwas nachgelassen und die Erstarrung der Nackenmuskeln ist deutlich besser. Nach sechs weiteren Sitzungen ist Pasang beschwerdefrei.
Amchi-Ärzte und heilende Mantras
Den alten Mönchsärzten Tibets ist es zu verdanken, dass eine Medizintradition aufrechterhalten werden konnte, die noch heute heilende Rituale für Mensch und Natur praktiziert, mit dem Ziel der Gesundheit von Körper, Geist und Seele und dem Bestreben, das Gleichgewicht in Familie, Gesellschaft, Natur und Kosmos wiederherzustellen. Besonders beeindruckend ist ein suggestives Ritual, das in tibetischen Klöstern die Moxa-Therapie begleitet: Gendun Yontan ist 53 Jahre alt und leidet unter Rheuma und immer häufiger auftretenden Schlafstörungen. Die Gelenke sind geschwollen und schmerzen bei jeder Bewegung, besonders auch bei Wetterwechsel und kalt-feuchtem Klima. Die Räume in dem Bergkloster, in dem er lebt, sind im Winter kalt und feucht und verschlimmern von Jahr zu Jahr sein Leiden. Er sucht den alten Mönchsarzt Lobsang Thamcho Nyima auf und bittet ihn um Hilfe. Durch sorgfältige Betrachtung und Betastung (Pulsdiagnose) wird eine Feuchtigkeitserkrankung festgestellt. Um die Feuchtigkeit zu vertreiben muss der Schleim bzw. „Sumpf“ trockengelegt werden.
An vielen Stellen wird nun Moxakraut direkt auf einer auf der Haut liegenden Ingwerscheibe verbrannt. Während das Moxakraut brennt, murmelt der Arzt das Mantra des Medizinbuddha Shaktiamoni. Das rhythmische Aneinanderreihen und Wiederholen heiliger Silben soll die gestörten Energieschwingungen des Patienten harmonisieren und auch negative Energien vertreiben. Mit diesem Ritual wird also der feinstoffliche Körper mitbehandelt. Der Arzt visualisiert den Medizinbuddha, dreht dabei eine mit einer heiligen Schriftrolle gefüllte Gebetstrommel und überträgt beim Rezitieren mit seinem Atem die göttliche Heilkraft auf den Energiekörper des Behandelten. Nach mehreren Sitzungen sind die Schwellungen sichtbar zurückgegangen und die Schmerzen haben etwas abgenommen.
Fazit
Der über Jahrtausende gereifte Erfahrungsschatz der tibetischen Medizin bietet zahlreiche effektive Therapien, die in der Hand des erfahrenen Arztes Blockaden lösen und Schmerzen lindern können. Begleitende suggestive Verfahren sind darüber hinaus in der Lage, das Vertrauen des Patienten in den Heilungsprozess zu stärken und diesen so voranzutreiben. Es lohnt sich in einer Zeit wie heute, den Erfahrungsschatz anderer Kulturen zu betrachten, um neu darüber zu entscheiden, welche Aspekte daraus auch bei uns im Westen praktisch einsetzbar sind.
Weitere Informationen:
www.ethnomed.de
www.drhobert.de