Die Gelehrten der Wüste

In Gambia, einem Land, in dem sich traditionelle Lebensweisen mit islamischen, aber auch westlichen Einflüssen vermischen, werden immer stärker westliche Erklärungsmodelle für Ursachen von Krankheiten transferiert und moderne Behandlungs- und Heilungsmethoden angewandt. Dennoch spielen traditionelle Erklärungen, Behandlungsarten und Glück bringende Rituale abseits der Städte im Landesinnern nach wie vor eine wichtige Rolle, insbesondere bei der armen Landbevölkerung.

Marabouts haben ihre Wurzeln in der Tradition des Sufi smus. Sie gelten als „heilige Männer“ und ihnen werden „magische Kräfte“ nachgesagt.

Für deren Gesundheit sind ebenso wie für die „Erfüllung ihrer Wünsche“ die Marabouts, gelehrte heilige Männer, zuständig.Aus der Weisheit von Generationen schöpfend, geben sie Hilfen in allen Lebenssituationen bis hin zu medizinischem Beistand. Ein Marabout, ein sog. Qur‘an-Gelehrter, führt dazu besondere magische Rituale aus. Dazu gehört nicht selten auch das Falten von Papieren, die „zufällig“ ausgewählte Sprüche aus dem Koran enthalten. In Leder eingewickelt und mit einem Band am Körper getragen, dienen sie als Amulett („Yu-Yu“) zum Schutz vor bösen Geistern, vor Krankheit und Verletzungen. Die Ver-wendung von solchen Fetischen ist vor allem in Westafrika weit verbreitet. Die Besitzer tragen die Objekte meist bei sich. Es handelt sich auch um kleine Figuren aus Holz, Knochen und Ton oder um „heilige Bündel“, die magische Zutaten wie Zähne, Felle und Steine enthalten; Gegenstände, die durch einen aufgelegten Zauber heilen, schützen und ein glückliches Fortkommen im Leben sichern sollen.

Jawara: Vor der kleinen Lehmhütte des Dorf-Marabouts in Sami Madina wartet immer Kundschaft. Papa Moussa ist so angesehen, dass Kranke viele Stunden Fußmarsch in meist glühender Hitze auf sich nehmen, um von ihm Hilfe zu erbitten. Nicht selten sieht man uralte verrostete „Tata“-Lastwagen Kranke abladen. Einer der Kranken, der heute aus den östlichen Teilen Gambias herangefahren wird, ist Jawara. Der 25-Jährige leidet seit mehreren Wochen an unerträglichen Kopfschmerzen. Er sucht Papa Moussa auf, um sich Hilfe von ihm zu erbitten. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er große Sorgen hat, da er keine Arbeit findet und seine drei Kinder nicht er- nähren kann. Neben Ängsten quälen ihn auch Schlaflosigkeit nachts und Müdigkeit tagsüber.

Papa Moussa, Heiler und Marabout, in seiner „Praxis“ und beim Examinieren einer Patientin

Papa Moussa lässt ihn zunächst rund um die Hütte Sand auflesen. Diesen muss er dann in eine Schale mit Wasser werfen. Nachdem der Sand den Boden erreicht hat, wird das Wasser vorsichtig ausgegossen. Zurück bleibt ein „Bodensatz“, welchen Papa Moussa interessiert und zugleich vielsagend betrachtet, während er sich einen großen Tonkrug Brunnenwasser bringen lässt. Diesen umfasst er mit beiden Händen und beginnt das Wasser mit zahlreichen Gebeten zu „besingen“. Dann weist er Jawara an, das so „geweihte Wasser“ Schluck um Schluck zu trinken. Nun deutet er Jawara an, ihm mit dem leeren Tonkrug zu folgen. Gemeinsam gehen beide durch die trockene Hitze zum Dorfplatz. Dort, in der Mitte des Ortes, befiehlt er Jawara, den Krug auf den Boden zu werfen, sich dann umzudrehen und ohne einen Blick auf die Scherben ihm wieder zu folgen. Jawara wirft den Krug mit voller Wucht zu Boden, sodass er zerbricht.Ohne zurückzublicken folgt er Papa Moussa zur Hütte. Hier bekommt Jawara einen Vogelkäscher mit dem Auftrag, einen Vogel in der Oase zu fangen. Als er wenig später mit dem gefangenen Vogel zurückkehrt, nimmt Papa Moussa diesen vorsichtig in die Hand und flüstert ihm etwas ins Ohr.

Daraufhin bittet er Jawara, dem Vogel seinen größten Wunsch ins Ohr zu flüstern und ihn dann mit seinem Segen fortfliegen zu lassen. Jawara befolgt die Anweisung genau, nimmt den Vogel an den Mund und spricht leise mit ihm. Dann lässt er ihn frei und mit schnellem Flügelschlag verschwindet der Vogel im blauen Himmel. Jetzt weiß er, dass seine Sorgen ein Ende finden und sich seine Schmerzen und Ängste bessern werden. Der Marabout Papa Moussa konnte ihm helfen.

Ndour: Mit 48 Jahren hat er die durchschnittliche Lebenserwartung in Gambia bereits um mehrere Jahre überschritten und zieht sein linkes Bein schon seit mehr als fünf Jahren schmerzhaft nach. Dieser Zustand begann ganz plötzlich nach einem sehr lange andauernden Fieber.
Papa Moussa betrachtet den Kranken lange, ohne ein Wort zu sagen. Dann steht er auf und holt einige spezielle Utensilien herbei, da-runter Hühnerfedern, Stahlnadeln und Räucherwerk. Papa Moussa weiß, dass es bei jedem Ritual von großer Bedeutung ist, den Göttern Opfer darzubringen, denn wenn man ihnen nicht ausreichend huldigt, können sie ihre Hilfe verweigern oder sogar dem Priester Schaden zufügen. Dann legt er seine Hand auf die linke Hüfte des Mannes und beginnt einige Gebetsformeln zu murmeln. Anschließend holt er einen vergilbten Koran und deutet Ndour an, das Buch an einer beliebigen Stelle aufzuschlagen.
Alsdann liest Papa Moussa ehrfürchtig die Seite vor, die Ndour aufgeschlagen hat. Einen der Sätze wiederholt er mit ausdrucksvoller Mimik mehrere Male und schreibt ihn anschließend auf ein Blatt Papier, welches er immer wieder zusammenfaltet, bis es nur noch wenige Zentimeter groß ist und die Form eines flachen Würfels hat. Dann ruft er seinen Gehilfen herbei und übergibt ihm das Papier. Dieser näht es mit einigen flinken Stichen in ein kleines Stück Leder ein, an dessen Enden eine Schnur befestigt ist.
Ndour soll es sich als „Yu-Yu“, als Talisman, an den Oberarm binden und von nun an nicht mehr abnehmen, da es ihm Gesundheit, Kraft und Schutz vor bösen Geistern verleiht. Dankbar und mit strahlenden Augen verlässt Ndour die Hütte, fest überzeugt davon, dass er nun zügig von seinen Schmerzen befreit werden wird.

Fazit: Magische Amulette oder Zaubersäckchen haben eine lange, weltweite Tradition und wer eines besitzt, kann sich glücklich schätzen: Nichts beinhaltet mehr Kraft, als solch ein mit kraftvoller Energie aufgeladener und mit magischen Kräutern und Gegenständen gefüllter Amulettbeutel. Ein Yu-Yu muss von einem Menschen hergestellt werden, der über uraltes Wissen und lang erprobte Fähigkeiten verfügt, damit er auch wirksame positive Kräfte für die jeweiligen Besitzer entfalten kann, davon ist jeder Gambianer fest überzeugt. Genauso verhält es sich mit rituellen Handlungen, deren suggestive Botschaften in der Lage sind, das Vertrauen des Patienten in den Heilungsprozess ebenso zu stärken wie auch seinen Glauben an den positiven Ausgang seiner anstehenden Probleme und die Gewissheit, dass das Beste noch kommt.

Dr. med. Ingfried Hobert ist Arzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und Ethnomedizin und übt seinen Beruf im eigenen Gesundheitszentrum in Steinhude aus. Seit über zwölf Jahren erforscht er die Heilweisen fremder Kulturen mit dem Ziel, das wertvollste aus anderen Welten in einem neuen ganzheitlichen Heilsystem zusammenzuführen. Er ist Autor zahlreicher Gesundheitsratgeber, Leiter der „Akademie für visionäre Medizin“, Veranstalter von Ausbildungsseminaren über transkulturelle Heilverfahren und Vorsitzender des internationalen Arbeitskreises zur Erforschung und Förderung traditioneller Heilverfahren.

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