Schwebend zum Glück

Während im Zirkus die Trapezkunst immer neue schwindelerregende Varianten erfährt, die inzwischen auch in der Tanzkunst als Anti-Gravity- oder Aerial-Dance Ausdruck finden, wird das traditionelle Yoga ebenso weiterentwickelt und teilweise in sprichwörtlich höhere Gefilde verlegt: Aerial Yoga verbindet die Bodenständigkeit des traditionellen Yoga mit der Leichtigkeit und Eleganz der Trapezkunst.

Aerial Yoga

Es war der Amerikaner Christopher Harrison, Choreograf und Tänzer, der das Aerial Yoga entwickelte. Als Anti-Gravity-Tänzer machte er bereits eine spektakuläre Tanztechnik in der Welt bekannt. Irgendwann setzte Harrison das trapezförmige Aerial-Tuch bis auf etwa einen Meter Abstand zum Boden herunter und begann, akrobatische Elemente mit Bewegungstechniken aus den Bereichen Yoga, Pilates und Tanz zu verbinden.

Die Grundidee des Aerial Yoga war geboren und fand sofort begeisterte Anhänger. Das Ganze sieht so aus: Mithilfe eines leicht dehnbaren Tuches, das wie ein Trapez von der Decke herabhängt, werden die Yoga-Übenden ein Stück weit ihrer Schwerkraft entledigt. Das Schweben in der Luft wird genutzt, um in ein sonst schwer zu erreichendes äußeres und inneres Gleichgewicht zu kommen.

Die deutschen Yoga-Lehrer Wolfgang Mießner und Peter Schlösser nutzen hauptsächlich Hatha-Yoga-Asanas für das Aerial Yoga. Sie sind von Yoga-Meister B.K.S. Iyengar inspiriert, dessen Yoga-Stil vor allem auf eine physiologisch korrekte Technik achtet und durch die Verwendung von Yoga-Equipment, wie Gurten, Blöcken, Polstern oder Schulterplatten gekennzeichnet ist. Die Utensilien erleichtern den Yogis und Yoginis mit ihren unterschiedlichen körperlichen Fähigkeiten bestimmte Übungen.

Als Mießner und Schlösser zum ersten Mal von Aerial Yoga hörten, waren sie sofort begeistert. Auf einem Fortbildungslehrgang lernten sie die Techniken, die sie so begeisterten, dass sie nun ein Buch zu Aerial Yoga verfasst haben. Neben dem Spaß an der luftigen Bewegungsform vermittelt dieses auch viel Wissen und praktische Tipps rund um die Trendsportart. »Neben diesem fantastischen und zugleich ungewohnten Gefühl, in und mit einem herabhängenden Tuch zu arbeiten, begeisterte uns vor allem die Tatsache, dass hier völlig neue Dinge geschahen. Unter anderem war nun echtes Loslassen möglich. Der Körper wurde bezüglich Koordination, Balance und Kraft völlig neu gefordert, während bisher vernachlässigte Bereiche durch das Training dazu angehalten wurden, sich positiv weiterzuentwickeln«, erzählen die Autoren. »Vor allem die Phase der Entspannung am Ende einer Unterrichtseinheit war faszinierend, da man jetzt nicht mehr den harten Boden unter seinem Körper spürte, sondern leicht war und schwebte.«

Variante
Hier wird der Oberkörper nach vorn geschoben. So bleibt man ungefähr 5 bis 10 lange Atemzüge. Der Kopf verweilt neutral zwischen den Armen. Die Schulterblätter sollten aktiv bleiben und vom Kopf weg in Richtung Becken gezogen werden. So wird vermieden, dass der Oberkörper durchhängt.

Aerial Yoga macht also richtig Spaß und ist gleichzeitig eine der besten Methoden, um den Körper sanft bis in die tiefsten Muskelpartien zu trainieren – immer soweit, wie es die körperlichen Fähigkeiten zulassen. Mithilfe des Tuches werden bestimmte Asanas für manch einen erst möglich und können gesundheitsgerechter durchgeführt werden. Etliche Übungen, für die man sich zu sehr »verrenken« müsste, werden machbar, da das Tuch verschiedene Körperpartien hält und uns gleichzeitig Gewicht abnimmt. Es hilft, völlig neue Bewegungen zu erfahren und den eigenen Bewegungsschatz zu bereichern. Die Arbeit mit dem Tuch erfordert allerdings eine gute Balance. An erster Stelle steht immer das Gleichgewicht, das innerlich wie äußerlich den Rahmen darstellt, in dem sich der Körper in neue Bereiche hineinbewegen kann.

Die meisten zivilisationsbedingten Handicaps des Bewegungsapparates, wie schwache Bauchmuskeln, ein zu runder Rücken, Nackenverspannungen oder Defizite in der Beweglichkeit können mit Aerial Yoga wunderbar trainiert werden.

Die Übungen sind gerade für den Rücken und die Gelenke ein wertvolles Training. Durch die Aufhängung des Aerial-Tuches an der Decke will es in alle Richtungen ausweichen. Durch diese Instabilität müssen wir das Tuch zu einem großen Teil mit der Tiefenmuskulatur wieder stabilisieren. Bauch-, Rücken- und Rumpfmuskeln sind hierbei aktiv beteiligt, wovon besonders die Wirbelsäule profitiert.

Das Aerial-Tuch

Das Tuch für Aerial Yoga, im amerikanischen Original als „hammock“ (Hängematte) bezeichnet ist ein speziell hergestelltes Mischgewebe aus funktionellen Fasern, die in eine Richtung (vertikal) recht straff und in die andere Richtung (horizontal) dehnbar sind. Durch diese Kombination wird ein weiches und gleichzeitig Aktivität forderndes Training möglich.

Die geistige Seite: Vertrauen, Entspannung, Loslassen

Neben den positiven Effekten für die körperliche Fitness und Beweglichkeit trägt Aerial Yoga dazu bei, dass wir auch auf der geistig-mentalen Ebene in Einklang mit uns selbst kommen. In stressigen Zeiten bringt es einen wunderbaren Ausgleich in unser Leben, lässt unserere Seele im wörtlichen Sinn baumeln und zur Ruhe kommen. Wir zentrieren uns und lernen, in unserer Mitte zu bleiben. Die Handhabung des Aerial-Equipments samt der Aufhängung an einer Decke und dem leicht dehnbaren Tuch ist am Anfang natürlich gewöhnungsbedürftig. »Bei jedem Einsteiger-Workshop können wir bei den Schülern eine interessante Mischung aus zügelloser Neugier und zurückhaltender Skepsis spüren«, erzählen Mießner und Schlösser. Es gilt also, Vertrauen aufzubauen und sich ins Schwerelose zu trauen.

Anfangs kann es sein, dass man etwas angespannt zwischen den Tuchlängen nach Halt sucht. Hierdurch lernt man mit der Zeit, sich auch in bewegten Phasen zu entspannen. Das ist nicht nur ein körperlicher Prozess, sondern auch ein psychischer. Die Unsicherheit des In-der-Luft-Schwebens fordert jeden heraus, sich dem Schwingen anzupassen, statt dagegen anzugehen. Nur im ruhigen Mitgehen mit den Bewegungen kann Entspannung eintreten.

Beim Aerial Yoga gibt es:

Body grounded Poses Übungen, bei denen der Körper auf dem Boden bleibt und nur die Arme oder Beine mit dem Tuch arbeiten.
Feet grounded Poses Übungen, bei denen die Füße auf dem Boden bleiben, während der Rest des Körpers mit dem Tuch arbeitet.
Flying Poses Übungen, bei denen man über dem Boden schwebt.
Inversions & Flips Übungen, bei denen man Überschläge macht oder Über-Kopf-Posen einnimmt.

Bei manchen Übungen spielt das eigene Körpergewicht bzw. die Erdanziehung eine wesentliche Rolle. Das Gewicht muss gleichmäßig in dem Tuch verteilt werden. Häufig wird durch dieses Abgeben oder Verteilen von Gewicht eine Übung erst wirksam. Dies fordert die Übenden heraus, genau auf ihren Körper zu achten, in ihn hineinzufühlen und eventuelle Bewegungsmuster wahrzunehmen, die sonst unbemerkt bleiben. Je dynamischer die Übungen, desto stärker ist unsere Aufmerksamkeit gefordert.

Adho Mukha Vrikshasana –
Der umgedrehte Baum
Probleme mit den Handgelenken oder Schultern, fehlende Armkraft, Scheu vor der Umkehrung oder vielleicht auch ein Handstand-Trauma aus dem Turnunterricht in der Kindheit – es gibt verschiedene Gründe, warum diese Position nicht jedermanns Sache ist. Aerial Yoga bietet ganz neue Möglichkeiten, den Handstand zu üben und lieben zu lernen. Frei stehend im Raum und mit sicherer Unterstützung durch das Tuch, vermittelt der Aerial- Handstand ein ganz neues Freiheitsgefühl und Selbstbewusstsein.

Achtsamkeit und Wahrnehmung sind daher essenziell beim Aerial Yoga. Hier lässt sich aktiv lernen, dauerhaft konzentriert zu bleiben. Der Effekt ist, dass wir generell mehr Einsicht in unsere körperlichen Zustände erlangen und gleichzeitig auch unseren Geist zu einer erhöhten Wahrnehmungsfähigkeit führen. »Ohne konzentriertes und achtsames Üben ist keine Wahrnehmung möglich. Unter anderem ist es auch das, worum es im Yoga geht: die Achtsamkeit schulen und die Wahrnehmung sensibilisieren«, erklären die Autoren Mießner und Schlösser.

Wie bei allen Formen des Yoga spielt auch beim Aerial Yoga die Atmung eine wichtige Rolle. Beim Aerial-Training wird in der aktiven Übungsphase stets tief und gleichmäßig geatmet. In der Entspannungsphase kann man sich dem natürlichen Atemfluss ohne bewusste Kontrolle hingeben. Bei jeder Übung ist genau angegeben, wann ein- und wann ausgeatmet werden soll. Eine gute tiefe Atmung wird häufig unterschätzt. Fest steht jedoch, dass ein Großteil der Menschen zu flach atmet. Besonders Stress und einst erlernte, ungünstige Reaktionsmuster führen zu einer solchen verflachten Atmung.

Yoga führt die Übenden zu einer natürlichen tiefen Atmung und trägt dazu bei, dass sich Stresssymptome verflüchtigen. Die Übungen senken erwiesenermaßen nachhaltig Anspannung und Stress. Die Energien kommen in Fluss und das Immunsystem erhält wieder genügend Power, um aktionsbereit zu sein. Stresssymptome wie Schlafstörungen oder Kopf- oder Rückenschmerzen können durch eine regelmäßige Praxis gelindert werden. Yoga ist eben ganzheitlich ausgerichtet und wirkt auch so. Die Asanas sind nie allein körperlich zu verstehen, sondern sollten mit allen Sinnen durchgeführt werden.

Die Entspannung des Geistes ist dabei der springende Punkt. Auch in turbulenten Phasen ruhig zu bleiben, einen klaren Kopf zu behalten, das kann uns Yoga – besonders Yoga in einem schwingenden Zustand – lehren. Letzten Endes zeigen sich die Effekte des Trainings immer auch in der persönlichen Entwicklung. Wer Yoga regelmäßig praktiziert, erfährt eine Harmonie von Körper und Geist, die in einer subtilen Wechselwirkung steht. Ohne es zu verkrampft zu wollen, sondern indem wir mehr und mehr loslassen, entsteht eine spürbare Balance. Wer dies am eigenen Leib erlebt, schwebt dann schon einmal sprichwörtlich auf Wolke 7.

Die Entspannung im Kopf erreichen wir mittels Achtsamkeit. Wir nehmen die Energien in und um uns herum wahr, indem wir uns nur auf die Übungen konzentrieren. Hier kommt der wahre Sinn von Yoga zum Vorschein: die Befreiung von der üblichen Emsigkeit und Unaufmerksamkeit unseres Geistes. Yoga erweitert in dem Sinn das Bewusstsein. So mancher hat beim Yoga schon ein Erleuchtungserlebnis gehabt. Im Alltag kann der Effekt des Yoga so aussehen, dass wir positive wie negative Ereignisse mit mehr Gelassenheit und Integrität angehen. Egal wie sehr es um uns herum wirbelt, wir bleiben im Auge des Hurrikans …

Weitere Aerial-Yoga Übungen finden Sie in der Newsage-Ausgabe 1/2015!

Buchtipp
Wolfgang Mießner, Peter Schlösser
Aerial Yoga –Schwerelos glücklich
208 Seiten, 19,99 €
ISBN: 978-3-95550-087-0
Trinity Verlag