Kind vor Sturm

Das verlassene Kind

Die Erfahrung des Verlassenseins in der Kindheit ist für den französischen Arzt und Autor Daniel Dufour eine der häufigsten Ursachen für spätere psychische Beschwerden, Beziehungsprobleme und verschiedene körperliche Erkrankungen. In ungezählten Fällen hat er mit Patienten diese Wunde aus der Kindheit aufgedeckt, die sich tief ins Unbewusste eines Menschen einprägt und seine Gedanken und Gefühle beeinflusst.

Kind vor SturmWährend seiner zwanzig Jahre Berufserfahrung erkannte Dr. Daniel Dufour das Verlassensein in früher Kindheit als zentrale Ursache für die seelischen Leiden vieler seiner Patienten. Als Arzt mit eigener Praxis – und zuvor als Koordinator für das Internationale Rote Kreuz in Kriegsgebieten – musste er erleben, dass der psychische Aspekt von Verlust von der herkömmlichen Medizin nur unzureichend erkannt und beachtet wird. Zudem fiel ihm immer wieder auf,dass auch die Betroffenen selbst sich kaum bewusst sind, worunter sie leiden.

Den Schlüssel zur Heilung dieses tief sitzenden Traumas fand der französische Mediziner darin, dass er seinen Patienten eine neue Haltung und Handlungsweise vermittelte, um die wiederkehrenden Ängste und das Scheitern sozialer Beziehungen zu überwinden. Denn das einstige Trauma mag verdrängt worden sein, seine Wirkung ist jedoch später an regelmäßig auftretenden – und oft irrationalen – negativen Gefühlen zu erkennen. Um an die ursprüngliche Verletzung zu gelangen, muss der Patient seinen Gefühlen nachspüren – achtsam und sozusagen »mitfühlend«. Daher ist Dufour auch der Meinung, »dass allein der Betroffene in der Lage ist, die nötigen Schritte zu seiner Genesung zu machen«.

»Verlassenwerden kommt einem Mord gleich!«

»Das Verlassenwerden kommt einem Mord gleich, ob er nun geplant ist oder nicht. Und die Folge davon ist: Ein verlassenes Kind ist das Opfer eines Mordversuchs«, so drastisch umschreibt Dufour die Auswirkungen der Erfahrung von frühem Verlassenwerden. Hiermit ist nicht nur das konkrete Wegbleiben der Mutter gemeint, sondern auch ihr Ignorieren der emotionalen und seelischen Bedürfnisse des Kindes, ihre »Abwesenheit«, wenn es darum geht, Liebe zu geben. Im späteren Leben kristallisiert sich dann beim Kind ein bestimmtes Verhaltens- und Gefühlsschema heraus, das typische Ängste, Aggressionen und Beziehungsprobleme aufweist.

Intellektuell-rationale Bearbeitung des Traumas ist unzureichend

Ein Kind braucht Liebe, um gedeihen zu können. Nur so kann bei ihm das Gefühl entstehen, wertvoll und willkommen zu sein. Es braucht also nicht nur die Unterstützung seiner Eltern in physischer Hinsicht, sondern auch ihre Zuwendung in psychischer Hinsicht, da Liebe unerlässlich für sein Wohlbefinden ist. Gänzlich oder teilweise fehlende Zuneigung hat somit entscheidende Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes. Die frühe Erfahrung von Verlassenheit wird von den Betroffenen meist als harmlos erachtet, weil sie sich nicht mehr bewusst daran erinnern und die entsprechenden Gefühle verdrängt haben. Wut und andere Emotionen als Antwort auf das Trauma erscheinen von einem rationalen Standpunkt aus betrachtet zuerst einmal unangemessen. Doch solange jemand bei seiner Analyse rein intellektuell vorgeht, wird er nicht spüren können, welchen Einfluss das Ereignis auf ihn hatte, da er zu den Gefühlen aus dieser frühen Zeit, in der Ratio und Logik für ihn noch nicht existierten, keinen Zugang mehr hat. Eben aus diesem Grund sind frühe Traumata so folgenreich: Sie wirken auf ein Wesen, das noch völlig offen und unbescholten, hilf- und schutzlos ist.

Dufour setzt dem klassischen medizinischen Weg eine alternative Methode der Behandlung entgegen. Die klassische Strategie versucht, Symptome medikamentös zu unterdrücken, und empfiehlt schließlich eine Psychotherapie, um den »Normalzustand« wiederherzustellen. Gerade diese vermeintliche »Normalität« sorgt aber für noch mehr Leid, denn sie formt durch Erziehung das, was Dufour als »Denke« oder »Ego« bezeichnet. Sie schneidet uns von unserer ursprünglichen Natur ab, prägt und beschränkt uns und macht aus einem einzigartigen Wesen ein gedrilltes Individuum, das sich zunehmend an einer künstlichen Norm misst. Je unsicherer eine Person dabei ist, umso mehr geschieht dies – und desto größer das resultierende Unwohlsein, da eine Norm nur durch Selbstverleugnung erreicht werden kann.

Die Umkehrung des Ego: Die OGE-Methode

Gegenüber der klassischen Methode rückt Dufour den unter den Verlassenheitsgefühlen Leidenden und seine Emotionen in den Mittelpunkt. Es ist die durch die Denke, das Ego, erzwungene Unterdrückung, die Leiden auslöst, so der Autor, und nicht die Emotion selbst. Unterdrückt werden kann das Erkennen dieser Emotion oder was man aufgrund dieser Emotion verspürt und wie man es ausdrückt. »Es muss dem Verlassenen also gelingen, seine Denke zum Schweigen zu bringen, wenn er will, dass es ihm besser geht und er genesen kann«, so Dufour. Dazu hat er die »OGE«-Methode entwickelt – eine buchstäbliche Umkehrung des Ego – mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit auf den physischen und sinnlichen Teil des Körpers zu richten, um zum Innersten vorzudringen. Ein Gleichgewicht ist dann erreicht, wenn die Person imstande ist, sich so zu schätzen, wie sie ist. Sich selbst zu finden und sich seiner selbst bewusst zu werden führt dazu, dass die Betroffenen autark und unabhängig werden, sich selbst lieben lernen und damit auch andere lieben können.

»Es ist an dem Menschen, der Opfer des Verlassenwerdens wurde, seine Suche nach Liebe voranzutreiben. Da er sie nicht oder nur teilweise von den anderen bekommen hat, muss er sie sich selbst gewähren«, so Dr. Dufour. Ihm zufolge ist es die Liebe, die es dem Verlassenen ermöglicht, sich auf den Weg der Genesung zu begeben: Sich erlauben zuzugeben, dass ein Leiden existiert, sei bereits ein Zeichen von Liebe, ebenso wie sich zu erlauben, die Emotionen angesichts des Erlebten zu akzeptieren.

Den Patienten in den Mittelpunkt stellen

In seinem Buch »Das verlassene Kind« zeigt Dufour, dass es funktioniert, den Patienten zum alleinigen Experten zu machen und nicht den Arzt und die Diagnose in den Mittelpunkt zu stellen. Seine Methode fügt sich ein in den Paradigmenwechsel der derzeitigen Psychologie, die die Salutogenese in den Vordergrund rückt und in den Ressourcen des Patienten das entscheidende Element der Gesundung sieht. Viele Leser werden sich in den zahlreichen anschaulichen Fallbeispielen Dufours wiederfinden und ihre eigene Lebensgeschichte mit anderen Augen betrachten.

Buch-TIPP
Daniel Dufour
Das verlassene Kind. Gefühls-verletzungen aus der Kindheit erkennen und heilen
163 Seiten, € 14,95
ISBN: 978-3-86374-047-4
Mankau Verlag