Wie Sonne und Mond

Die Sonne als aktiver Lichtspender und der Mond als passiver Reflektor spiegeln in ihrer Funktionsweise das große harmonische Zusammenspiel auf Erden. Aktivität und Passivität, Anspannung und Entspannung oder Ein- und Ausatmung sind universelle Prinzipien, die sich im Menschen unterschiedlich ausdrücken. Tatsächlich gibt es zwei grundverschiedene Atemtypen, die – wie Frieder Anders herausgefunden hat – u.a. bei der Praxis des Taiji und der richtigen Haltung eine entscheidende Rolle spielen.

Taiji-Meister Frieder Anders: Eine verbindliche Anweisung zum »richtigen« Atmen kann immer nur in Annäherung an den jeweiligen Typ gegeben werden.
Die Überlegung ist eigentlich naheliegend und doch haben erst wenige Menschen erkannt, wie die Art des Atmens uns voneinander unterscheidet. Bis auf wenige Ausnahmen lassen sich nämlich alle Menschen entweder als Ein- oder als Ausatmer typisieren; etwas, das der deutsche Musiker Erich Wilk im Jahr 1949 als Erster formulierte. Die Erklärung hierfür ist einleuchtend, denn der Atemtyp entspringt unseren biologischen Grundlagen: Jede Bewegung des Organismus erfordert das Zusammenspiel von Kontraktion und Lösung.

Auch der Atemvorgang ist abhängig von der Spannung der Atemmuskulatur und deren harmonischem Zusammenspiel. Dabei übernehmen entweder die Ein- oder die Ausatemmuskeln die aktive Rolle, denn ein stetiges Anspannen beider Wirkrichtungen würde unausweichlich zur Erschöpfung des gesamten Systems führen. So gibt der Atem nicht nur im Rahmen der Sauerstoffzufuhr den Takt des jeweiligen Individuums vor. Welchem Typ man angehört, kann jeder leicht selbst herausfinden, indem er einen schweren Gegenstand vom Boden aufhebt und dabei darauf achtet, ob die Kraftanstrengung durch die Ein- oder Ausatmung unterstützt wird. Einatmer ziehen die Luft aktiv ein, bevor sie den Gegenstand anheben, Ausatmer hingegen begleiten die Arbeit mit einem Auspressen der Luft. Auch im Schlaf lässt sich der Unterschied deutlich ausmachen: Ein Einatmer zieht den Atem hörbar ein, während der Ausatmer die Luft verstärkt hinausdrückt.

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Die ursprüngliche Entdeckung gelang, weil der naturverbundene Erich Wilk Sonne und Mond als bipolare Kräfte und entscheidende Qualitätsmerkmale während der Geburt hinsichtlich des Atemtyps verstand. Er wollte seine Schüler mithilfe dieser Erkenntnis zu einer natürlicheren und typengerechteren Sprach- und Stimmbildung befähigen. Die Ärztin Charlotte Hagena und ihr Sohn Christian haben diese Erkenntnisse aufgenommen und sie als »Terlusollogie« (von terra, luna, sol) bekannt gemacht. Dabei haben sie auch entdeckt, dass sich aufgrund der Verlagerung des Körperschwerpunkts nach hinten beim Einatmer eine lotgerechte Körperhaltung findet sowie eine Gewichtsbetonung des hinteren Fußabschnittes und eine entsprechende Fersenbetonung beim Gehen. Für den Ausatmer gilt das Gegenteil, was vor allem in Hinblick auf die medizinische Orthopädie revolutionär erscheint. Denn die kerzengerade Haltung wird durch die Verlagerung des Schwerpunktes nach unten und vorne bei diesem Typen aufgehoben: Eine leichte Vorwärtsneigung des Rumpfes entspricht dem Ausatmer und ist seine natürliche Haltung.

Die Atemtypen im Taiji

Diese Erkenntnis hat der Taiji-Meister Frieder Anders nach langjähriger Beobachtung nun detailliert aufgegriffen und sie in die Bewegungsschulung der altasiatischen Tradition integriert. Taiji steht seit jeher für bewusste und natürliche Bewegung, für eine originäre Betrachtung des Wesens unserer Welt. Wahre Meister dieser Techniken in Aktion zu sehen ist ein echtes Erlebnis und Meditation zugleich. Mithilfe der richtigen Haltung und des kontrollierten Atems können Angriffe scheinbar mühelos pariert werden.

Entscheidenden Anteil an der Entwicklung von Frieder Anders hatte der Großmeister, bei dem er mehrere Jahrzehnte die Feinheiten dieser Kunst erlernte und der ihm als einzigem Westeuropäer den Meistertitel in der Tradition des Yang-Familienstils verlieh. Der Lehrmeister von Anders, Chu Kinghung, übernahm zunächst seine Taiji-Haltung von seinem eigenen Meister, indem er bei den Bewegungsfolgen eine leichte Schrägstellung des Oberkörpers einnahm. Im Laufe der über 20 Jahre, in denen Anders bei ihm lernte, entfernte er sich von der schrägen in die aufrechte Position. Ein typisches Anzeichen für einen Einatmer, der Chu Kinghung zweifelsfrei ist.

Während man bislang diese Unterschiede in der Geschichte und Philosophie des Taiji als individuelle Ausprägung verstand, muss man Anders Beobachtungen unter dem Gesichtspunkt des Atemtyps als bahnbrechend erachten. Taiji und jede andere Bewegungskunst, in der gesammelte Kraft vonnöten ist, funktionieren je nach Typ unterschiedlich – tatsächlich kann man sogar nach den Erkenntnissen der Familie Hagena davon ausgehen, dass die Bewusstwerdung des eigenen Atemtyps und die daraus resultierenden Aufmerksamkeitsausrichtung jedem Menschen zu mehr Wohlbefinden und physischer Stabilität verhelfen kann.

Frieder Anders ist es auch zuzuschreiben, dass er das jahrhundertelange Missverständnis der paradoxen Atmung mithilfe seiner Erkenntnis der Atemtypen korrigierte. Diese paradoxe oder »falsche« Atmung meint nichts weiter, als dass beim Einatmen primär in den Brustkorb geatmet wird und nicht, wie aus chinesischer Sicht »richtig« oder normal, in den Bauch. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Für den Einatmer ist die paradoxe Atmung die normale, denn er zieht mithilfe der aktiven Einatemmuskeln die Energie rumpfaufwärts und weitet Lungen und Brustkorb, während der Bauch relativ unbeansprucht bleibt. So gesehen ist das »richtige« Atmen eben nur für den Ausatmer richtig – eine weitreichende Erkenntnis, die viele Atemschulen und -techniken in ein neues Licht rückt. Eine verbindliche Anweisung zum »richtigen« Atmen kann somit immer nur in Annäherung an den jeweiligen Typ gegeben werden.

Der Mut und der Weitblick, den Anders in seinen aktuellen Veröffentlichungen beweist, wird mit einer konsequenten Weiterentwicklung nicht nur in den unterschiedlichen medizinischen, gesundheitspädagogischen und bewegungstherapeutischen Bereichen tief greifende Auswirkungen haben – auch auf der individuellen Ebene, wenn wir uns unseres natürlichen Atemtyps bewusst werden.

BUCH-TIPP
Frieder Anders
Das innere Taijiquan. Einführung in den authentischen Yang-Stil für beide Atemtypen
288 Seiten, € 24,95
ISBN 978-3-89901-394-8
Theseus Verlag

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