Das große „O“? – Der Orgasmus auf dem Prüfstand

Sex ist gut für uns, er hält uns fit, gesund und sorgt für seelische Ausgeglichenheit – so das allgemeine Credo seit der Sexuellen Revolution. Ganze Generationen sind seitdem auf der Jagd nach sexuellen Höhepunkten, doch gleichzeitig steigen auch die Scheidungsraten und die Spannungen in scheinbar intakten Beziehungen. Dass dies nicht nur an der Abkehr von überkommenen Rollen- und Verhaltensmustern, sondern teilweise auch am orgasmusorientierten Sex selbst liegt, zeigen jüngste Forschungsergebnisse, die Sex und Orgasmus in neuem Licht erscheinen lassen und den Weg zu einem neuen, bindungsorientierten Sex weisen.

Viele alte Weisheitslehren preisen die gesundheitsfördernden Wirkungen von Sex und manche Traditionen sehen in speziellen sexuellen Praktiken einen Weg zu spiritueller Entwicklung oder gar zur Erleuchtung. Anders als in unserer scheinbar so aufgeklärten Gesellschaft warnen sie jedoch auch vor einem Energieverlust durch übermäßige sexuelle Betätigung. Sind dies alles überkommene Anschauungen oder ist Sex doch nicht frei von Risiken und Nebenwirkungen, mal ganz abgesehen von AIDS oder anderen sexuell übertragbaren Krankheiten?

In diesem Zusammenhang ist zur Zeit vor allem der Orgasmus im Gespräch und zwar nicht nur beim Mann, sondern auch bei der Frau. Die moderne Sexologie kennt schon lange die „postorgastische Verstimmung“, die sie zu den psychisch bedingten „funktionellen Sexualstörungen“ zählt. Sie tritt nach dem Höhepunkt auf und kann sich in innerer Unruhe, Gereiztheit, Schlafstörungen, Depressionen, Weinanfällen und Missempfindungen äußern. Neue Erkenntnisse aus Hormonund Hirnforschung deuten jedoch darauf hin, dass diese „Störungen“ gar nicht so selten und auch nicht krankhaft sind, sondern auf einen natürlichen „Zyklus der Leidenschaft“ zurückgehen, dessen Effekte wir meist gar nicht mit der sexuellen Aktivität in Verbindung bringen, wie die amerikanische Autorin Marnia Robinson in ihrem bahnbrechenden Werk „Das Gift an Amors Pfeil“ betont.

Wenn wir nicht gerade frisch verliebt sind, können sich die „Verstimmungen“ auch in kleineren Streitereien mit dem Partner ausdrücken – plötzlich nehmen wir die sonst geliebten Schrullen des Partners als bedrohlich war, ärgern uns darüber, dass er die Zahnpastatube nicht zugeschraubt hat oder dass sie sich wieder neue Schuhe kaufen musste. Oft sind die Auswirkungen subtil: Die Partner können abwechselnd ungewöhnlich bedürftig, ängstlich, erschöpft oder reizbar sein. Im Extremfall verwandelt er sich in der postorgastischen Phase in ihren Augen vom Erlöser in den Antichrist, während er statt seiner geliebten Aphrodite nun eine Medusa mit Schlangenhaar wahrzunehmen glaubt. Die Ursache für solche Verschiebungen der Wahrnehmung sucht man nur selten in einem oft Tage zurückliegenden Orgasmus. Denn wer weiß schon, dass der postorgastische Zyklus nicht nur ein paar Stunden, sondern nach neuesten Erkenntnissen ganze zwei Wochen andauert?

Schuld an diesem Zyklus ist laut Robinson unser Erbe als Säuger und der Imperativ unserer Gene, die sich möglichst häufig und mit möglichst vielen Partnern vermehren wollen. Unsere Gene bedienen sich dazu unseres „Säugetiergehirns“ (limbisches System), das unabhängig von unserem rationalen Gehirn (Neocortex) unser Paarungsprogramm steuert. „Es ist Sitz des Belohnungskreislaufs,“ erklärt Robinson, „der Mechanismus, der unsere Triebe und Emotionen steuert. Nach dem Orgasmus kommt es im Belohnungskreislauf zu neurochemischen Fluktuationen. Diese können dafür sorgen, dass der Partner nicht mehr ‚lohnenswert‘ für uns aussieht, und dass wir uns entlieben – auf der Ebene des Bauchgefühls. Zur gleichen Zeit mögen uns neue Partner sehr attraktiv erscheinen, weil wir einen neurochemischen Stoß erhalten, wenn wir ihnen unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Dieses Phänomen – eines Partners überdrüssig zu werden, mit dem man sich sexuell übersättigt hat, neue Partner jedoch attraktiv zu finden – wurde sowohl bei männlichen als auch weiblichen Säugetieren beobachtet. Die neurochemischen Fluktuationen, die auf sexuelle Übersättigung folgen, dauern ungefähr zwei Wochen an. Sie können Veränderungen in unseren Gefühlen für unseren Partner bewirken.“

Veränderungen, welche die Beziehung zunehmend in Frage stellen – nicht auf bewusster, sondern auf unterbewusster Ebene, aber nicht minder wirksam. Im Gegenteil, der Cocktail aus wechselnden Teilen von Dopamin, Prolaktin, Testosteron und Endorphinen – das „Gift an Amors Pfeil“ – ist genauso wirksam wie harte Drogen und zielt darauf, dass wir uns „anderweitig umschauen“. Trennungen sind also neurochemisch vorprogrammiert, genauso wie der Seitensprung, wenn es uns nicht gelingt, zu einem ebenso neurochemischen Gleichgewicht auf Ebene des Säugetiergehirns zu gelangen.

Zum Glück gibt es neben dem Paarungsprogramm noch ein komplementäres Bindungsprogramm, das ebenfalls auf den Belohnungskreislauf im Säugergehirn zugreift und ohne das wir uns nicht verlieben könnten. Dieser Mechanismus ist nicht geschlechtsspezifisch und hat sich wohl ursprünglich entwickelt, um uns an unsere Eltern und Kinder zu binden. Er bedient sich hauptsächlich des Kuschelhormons Oxytocin, welches durch liebevolles Berühren, Streicheln, freundliche Worte usw. freigesetzt wird und das wie ein Gegengift gegen den oben erwähnten Cocktail von Paarungsund Trennungshormonen wirkt.

Laut Robinson ist nicht der Orgasmus das wahre große „O“, sondern das Oxytocin, da es wohl tatsächlich für die gesundheitsfördernden Wirkungen verantwortlich ist, die sonst gern dem Orgasmus zugeschrieben werden. Oxytocin wirkt gegen Stress, Depression und defensives Verhalten. „Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Grund dafür, warum eine enge, vertraute – und insbesondere harmonische – Partnerschaft mit einem längeren Leben, schnellerer Heilung und einer niedrigen Krankheitsrate, weniger Depression und Abhängigkeit in Verbindung gebracht wird“, so Robinson. Deshalb plädiert sie auch für einen bindungs- statt orgasmusorientierten Sex wie zum Beispiel für die Praxis von „Karezza“ (sanfter Sex ohne Orgasmus) oder für taoistische Praktiken sowie natürlich für möglichst viel Zärtlichkeit in der Zweisamkeit, um zu einem Gleichgewicht in unseren sexuellen Beziehungen zurückzufinden.

BUCH-TIPP:
Marnia Robinson
‚Das Gift an Amors Pfeil‘
520 Seiten, € 24,90
ISBN 978-3-86781-005-0
Arbor Verlag
www.arbor-verlag.de