Krishnamurti

„Eines Nachts wachte ich auf und hatte das Gefühl, dass das gesamte Universum mit mir verschmolz. Alles floss in mich hinein, und die Reise ging tiefer und tiefer, in eine Tiefe ohne Ende.“  Jiddu Krishnamurti

Von der „Vereinigung mit dem Geliebten“, wie es der junge Krishnamurti nannte, bis hin zur Berührung „des namenlosen Ursprungs, der absoluten Stille“, wie er es in seinen letzten öffentlich gesprochenen Sätzen bezeichnete, bildete die Erfahrung der „unio mystica“, die Erfahrung des UNENDLICHEN LICHTES, das Herzstück seines Lebens. Immer wieder kreiste sein Erleben und im Anschluss daran sein Lehren um dieses unaussprechliche Mysterium, das er in stets neue Worte zu kleiden versuchte, um es transparent zu machen. Ein Unterfangen, an dem er scheitern musste, wie alle großen Mystiker vor ihm. Wer keine Ohren hatte zu hören, der vernahm nichts; und wer keine Augen hatte zu sehen, der erschaute nichts.

Auf eine Frage nach dem Wesen eines spirituellen Lehrers hatte er implizit gleich eine Antwort auf die Unbeschreibbarkeit der Erleuchtungserfahrung gegeben: „Die Wahrheit, die Schönheit der Erleuchtung, wie immer Sie es auch nennen wollen, kann niemals beschrieben werden – sie ist. Sie ist lebendig, in Bewegung, aktiv und ohne Schwere. Nur von etwas Totem können wir sagen, was es ist, und ein Lehrer, der Sie etwas über tote Dinge lehrt, ist kein Lehrer.“

Wenn man über Erleuchtung im Zusammenhang mit Krishnamurti spricht, muss man zwangsläufig auf die Advaita-Lehre eingehen, auf die Einheitserfahrung einer Tradition, wie sie in der Neuzeit von Ramakrishna, Vivekananda oder Ramana Maharshi verkörpert wurde, um nur ernst zu nehmende Vertreter des Advaita zu nennen und nicht das, was sich im 21. Jahrhundert als NeoAdvaita bezeichnet.

Die Gefahr bei Krishnamurti besteht darin, bestimmte Aussagen über die „Eins-Werdung“ aus dem Zusammenhang seiner Lehre zu reißen und absolut zu setzen. Dies trifft sowohl auf den frühen als auch auf den späten Krishnamurti zu. Im Februar-Heft des „Stern“ aus dem Jahr 1931 spricht Krishnamurti über die Verwirklichung des Buddha und jene des Christus, indem er hinzufügt, dass sie als potenzielle Erfahrung in jedem Menschen liege. Wenn man diese Verwirklichung erlangt hat, „hört alle Trennung auf, also kann es dort keine Unterscheidung dem Namen nach geben. Wer in dieses Leben eingeht, wird zum All, er wird das Leben selber. Von diesem Leben sage ich nun, ich habe es verwirklicht.“

Würde man diese Aussage aus dem Blickwinkel des klassischen Advaita deuten, etwa im Vergleich zu einer gleichlautenden Aussage von Ramana Maharshi, der diese Erfahrung als final ansah, dann müsste man Krishnamurti als überzeugten Advaitin betrachten. Allein die Tatsache, dass sich an diese Stellungnahme mehr als 50 Lebensjahre anschlossen, die entscheidend geprägt waren vom „Prozess“, also der lebenslangen Transformation des Bewusstseins von Krishnamurti, macht unzweifelhaft klar, dass für ihn Erleuchtung keinen finalen Charakter hatte, gar nicht haben konnte.

1931 kommt Krishnamurti in Ommen auf seine Verwirklichungen zu sprechen, die sich fünf Jahre zuvor ereignet hatten. „Ich erfuhr 1926 etwas, das endgültig und fundamental ist und keine Zielgerichtetheit aufweist. Bitte versteht, dass es sich nicht weiterentwickelt, sondern etwas ist, dass absolut ist, obwohl es nichts mit einem Ende gemeinsam hat; es ist eine unaufhörliche Erneuerung, das Leben selbst; es ist zeitloses Werden und kann mit Worten nicht beschrieben werden.“

Die tiefschürfendsten Aussagen Krishnamurtis zu diesem Thema finden sich aber in einem Artikel von E. A. Wodehouse „A Conversation with Krishnamurti“, der 1930 im „International Star Bulletin“ abgedruckt wurde. Dort äußert sich Krishnamurti, nach seiner Trennung von der Theosophischen Gesellschaft, in völliger geistiger Freiheit und auf der Höhe seiner Einsicht zur Frage von Selbst und Nichtselbst.

„Es ist falsch, Befreiung als Vernichtung zu betrachten. Viel eher kann man in Wahrheit von einem Neuanfang sprechen. – Das „Selbst“ (im Zustand der Befreiung, d. Verf.) ist nicht ein Ego. Es ist etwas weitaus Subtileres – individuelle Einzigartigkeit. – Es ist individuell und zur gleichen Zeit universell. – Für ein menschliches Wesen kann es kein vollständiges Verschmelzen mit dem Absoluten geben, etwa im Sinne eines ‘Verdunstens’ in die Totalität des Lebens. Die Unterschiedenheit, wie abstrakt und fein auch immer, die mit dieser individuellen Einzigartigkeit einhergeht, besteht ewig fort. – Wenn es (das Leben, d. Verf.) von allem Egoismus befreit ist, wird es, sozusagen, zu einem neuen Fenster, durch das sich das universelle Leben selbst verwirklichen kann.“

Krishnamurti wollte die Erfahrung der WIRKLICHKEIT so radikal wie nur irgend möglich von aller menschlichen Begrenztheit abheben, um sie freizuhalten von jeder Form der Manipulation und um ihre einzigartige Schönheit und Reinheit zu bewahren. Er erlebte noch die Hippie-Zeit und den Boom der Indien-Reisen, die als Erleuchtungstrip sehr in Mode waren, bei ernsthaften und weniger ernsthaften Suchern. All dies hatte in seinen Augen nichts mit der wahrhaften Suche nach der Wirklichkeit zu tun.

„Wenn Sie das Geld haben, können Sie nach Indien gehen. Ich weiß allerdings nicht, warum Sie dorthin gehen wollen, denn Sie werden dort keine Erleuchtung finden. Erleuchtung ist da, wo Sie sind. Und wo Sie sind, da müssen Sie verstehen.“ Mit anderen Worten hatte er den gleichen Gedanken früher schon ähnlich formuliert: „Das Unendliche liegt nicht jenseits des Endlichen, sondern im Endlichen. Das Ewige liegt nicht jenseits des Zeitlichen, sondern im Zeitlichen. Das Unsterbliche liegt nicht jenseits des Sterblichen, sondern es ist das Sterbliche. Das Unsterbliche, das Ewige, das Unendliche bist du selbst.“

Viele Jahrzehnte setzten sich die mystischen Erfahrungen im Leben Krishnamurtis fort. Sie variieren in ihrer Intensität und Tiefe, aber sie folgen den Worten seines großen Vorgängers, dass „die Wahrheit frei machen wird“. Er bestätigt das im Gespräch mit John White emphatisch: „Erleuchtung bedeutet die totale Freiheit, die vollendete Freiheit.“

Jiddu Krishnamurti bei einem Vortrag in Kalifornien an seinem 85sten Geburtstag

Auch 1961, ein halbes Jahrhundert nach seiner „ersten Einweihung“, ist die Dynamik seines mystischen Erfahrungsprozesses ungebrochen. Seine „Notebook“-Eintragung vom 20. Juli 1961 enthält eines der bewegendsten Zeugnisse von Krishnamurtis Erleben und stellt eines der weltgeschichtlich bedeutenden, zeitlosen Dokumente mystischer Einheitserfahrung dar. „Der Raum war erfüllt von dieser Segnung. Was dann folgte, ist nahezu unmöglich mit Worten zu beschreiben; Worte sind solche toten Dinge, mit festgesetzten Bedeutungen, und was geschah, vollzog sich jenseits aller Worte und Beschreibungen. Es war das Zentrum der Schöpfung; es war eine Reinigung von großer Ernsthaftigkeit, die das Gehirn von allen Gedanken und Gefühlen befreite; eine Ernsthaftigkeit wie jene eines Blitzschlages, der zerstört und verbrennt; eine Tiefe, die nicht auszuloten war, unbeweglich und undurchdringlich, eine Gewissheit, die dem Licht des Himmels glich. Es erfüllte die Augen, und die Augen konnten sehen. Die Augen, die sahen, die erschauten, waren gänzlich verschieden von den physischen Augen, und doch waren es die gleichen Augen. Es war nur Schauen, und die Augen blickten jenseits von Raum und Zeit. Es war unergründliche Göttlichkeit mit einem Frieden, der das Wesen aller Bewegung, allen Geschehens ausmachte.“

Was Krishnamurti über den in Selbstversunkenheit glückseligen Mystiker hinaus auszeichnet, ist seine unermüdliche Bereitschaft, sein Licht in der Welt leuchten zu lassen und die Überzeugung von der gesellschaftlichen Relevanz mystischer Transformation. Der Mystiker verwandelt nicht nur sein niederes Selbst, sondern in seiner Metamorphose wird auch die gesamte Menschheit umgeformt. „Es sind sehr, sehr wenige, aber diese wenigen können das gesamte Bewusstsein der Menschheit beeinflussen. – Wenn ein paar Menschen dem Kummer ein Ende setzen, dann wird das gesamte Bewusstsein davon beeinflusst.“

Krishnamurti war, wie etwa zur gleichen Zeit und nahezu am selben Ort Sri Aurobindo, in die unergründlichen Tiefen des Absoluten eingetaucht; und beide Seher und Mystiker erkannten aufgrund ihrer geistigen Größe, bei aller potenziellen Göttlichkeit des Menschen, die Unermesslichkeit des ABSOLUTEN. In bewegender Weise drückte Krishnamurti dies einmal in einem emotional sehr berührenden Gespräch mit Susunaga Weeraperuma aus. Dieser erinnert sich: „Jener Abend, an dem Krishnamurti mit tiefer Bewegtheit auf das Unendliche zu sprechen kam, zählt zu meinen glücklichsten Erinnerungen.
‚Glaube mir, ich erschaue nur ein Bruchstück des Unendlichen‘, sagte er. Dann, nachdem er sich die Tränen von seinem verzückten Gesicht abgewischt hatte, fügte er hinzu: ‚Das Unendliche ist von solcher ungeheuerlichen Unfassbarkeit, dass du es niemals in seiner Ganzheit erschauen kannst.'“

Mit dieser Aussage setzte Krishnamurti seinen revolutionären Ansatz auf der tiefsten Ebene fort. Die bisher in vielen Traditionen als finale Erfahrung gedeutete „unio mystica“ (Samadhi, Satori, Buddha-Natur etc.) gewinnt aufgrund seiner Ein-Sicht eine neue Dynamik. Sie wird nicht mehr als End-, sondern als Anfangspunkt verstanden, wie Krishnamurti schon früh andeutete, als er Erleuchtung nicht als Vernichtung, sondern als Neubeginn charakterisierte. Die Erfahrung des Göttlichen ist nie abgeschlossen, ewig neu, von unbeschreiblicher Schönheit und Herrlichkeit erfüllt. ES bleibt für immer ein Geheimnis.

„Es ist nicht möglich, eins mit ihm zu sein; es ist nicht möglich, eins mit einem schnell fließenden Fluss zu sein. Du kannst niemals eins sein mit jenem, das ohne Form, ohne Maß und ohne Eigenschaft ist. Es ist; das ist alles.“ Jiddu Krishnamurti

BUCH-TIPP
Peter Michel
Krishnamurti – Der Mensch der Zukunft
236 Seiten, € 19,95
ISBN: 978-3-89427-374-3
Aquamarin