Herzensfeuer

Ein Gespräch mit Saleem Matthias Riek

Das Leben ist widersprüchlich. Die Paradoxien unseres Lebens lauern überall: im Alltag, in unseren Beziehungen, in unserer Kultur und in unserer Spiritualität. Saleem Matthias Riek, Heilpraktiker für Körperpsychotherapie, Tantra-Lehrer und Leiter des „Art-of Being Instituts“ in Freiburg, hat ein Buch geschrieben, das uns dazu einlädt, die Widersprüche unseres Lebens in neuem Licht zu sehen.

newsage: „Eine Liebeserklärung an die Paradoxien des Lebens“ lautet der Untertitel Ihres Buches „Herzensfeuer“. Ich dachte, Widersprüche seien dazu da, dass wir sie auflösen. Wie kommen Sie auf die Idee, sie zu lieben?
Riek: Dahinter verbirgt sich eine längere Entwicklung. Früher habe ich genau das Gleiche versucht, was in unserer Kultur normalerweise versucht wird: die Widersprüche zu lösen. Durch unterschiedlichste Erfahrungen und Einflüsse angeregt, fing ich an zu erforschen was passiert, wenn ich einen Widerspruch erstmal voll und ganz da sein lasse. Ich kann nur sagen: eine neue Welt tat sich auf.

newsage: Ein Widerspruch, den wir alle häufig erleben, ist ja zum Beispiel der zwischen Beruf und Privatleben, zwischen dem „Ernst des Lebens“ und der Sehnsucht nach Lebendigkeit und Leidenschaft. Wie könnte ich denn „liebevoll“ damit umgehen?
Riek: Oft gehen wir achtlos darüber hinweg, dass wir Tag für Tag viele unserer Bedürfnisse und Sehnsüchte vernachlässigen. Zwar herausfordernd, aber dennoch liebevoller wäre es, uns einzugestehen: Ich träume von einer erfüllenden Partnerschaft, aber wenn ich abends nach Hause komme, will ich oft nur noch meine Ruhe haben. Oder ich brauche die Sicherheit von meinem Arbeitsplatz, aber ich möchte auch mal alles aufs Spiel setzen und aussteigen.

newsage: Widersprüche stehen zu lassen und auszuhalten, das ist ja eine Menge innerer Arbeit. Und wenn ich dann am Ende doch nur wieder das tue, was ich spontan ohnehin getan hätte – was hab ich dann von der ganzen Mühe?
Riek: „Spontan“ tun wir meist das Gewohnte! Erst nach einer Weile des Innehaltens, da bricht dann oft das wirklich Spontane hervor. Aber wohl eher selten, solange wir uns fragen: was bringt jetzt diese ganze Mühe? In unserer inneren Arbeit „arbeiten“ wir nicht zuletzt daran, nicht immer an allem „arbeiten“ zu müssen. Wir lernen loszulassen und Vertrauen in das Leben zu entwickeln, so wie es ist.

newsage: Im Kapitel über die Kultur der Widersprüche sagen Sie, dass wir den Hamsterrädern kultureller, wirtschaftlicher und politischer „Sachzwänge“ nur durch das Eingeständnis unseres Nichtwissens entkommen. Eine mutige und sympathische Vision, aber wie realistisch ist sie?
Riek: So realistisch wie das Überleben dieses Planeten. Niemand kann das voraussagen. Aber gehen wir doch mal eine Ebene tiefer: Was ist überhaupt real? Was die Tagesschau meldet? Oder was mein Herz mir sagt? Woran orientieren wir uns? Und welcher Stimme geben wir letztlich alle Macht, indem wir glauben, sie vertrete die Realität? Wir sind uns gewöhnlich nicht bewusst, wie wir unsere Realität erschaffen. Wie sollen wir uns dessen bewusst werden, wenn wir uns unser Nicht-Wissen schon gar nicht eingestehen?

newsage: Widersprüche, Gegensätze, Polaritäten sind ja nicht nur eine Last, sondern beim Sex zum Beispiel ausgesprochen lustvoll – oder sie können das zumindest sein. Wie haben Ihre Erfahrung und Ihr Erleben als Tantra-Lehrer Ihren Umgang mit Widersprüchen beeinflusst?
Riek: Die Widersprüche und Unterschiedlichkeiten sexueller Bedürfnisse von Frauen und Männern in vollem Umfang an uns heran zu lassen, das ist für viele starker Tobak. Aber im Sex, das habe ich immer wieder erleben und beobachten dürfen, können wir einen Geschmack davon bekommen, dass es sich lohnt, sich auf Widersprüche einzulassen. Und dass die Lust versiegt, wenn wir sie meiden.

newsage: Das kennen Viele: Harmonische Beziehung – langweiliger Sex oder aber schwierige Beziehung – toller Sex. Gibt es Wege aus dem Dilemma?
Riek: Der Weg hinaus ist der Weg hinein! Wenn wir mitten im Dilemma verweilen können, dann können Erregung und Entspannung zusammen kommen. Wenn wir in erregtem Zustand entspannen, geben wir Kontrolle auf. Dann können auch Schattenseiten hochkommen, die wir bislang in Schach gehalten haben. Aber genau da liegt auch der Schlüssel: eine Harmonie in uns zu finden, die nicht hohl ist, sondern schwingt und pulsiert bis in die Zehenspitzen.

newsage: Sex und Liebe völlig zu trennen, galt eine Zeit lang als „die Patentlösung“. Ich kenne aber, ehrlich gesagt, keinen, der damit so richtig glücklich geworden wäre. Sex nur in der Beziehung ist das andere Extrem. Es erscheint mir allerdings ziemlich verlogen. Wie bringen wir Herz und Sex auf eine lebendige Art zusammen?
Riek: Mir scheint es wichtig zu sein, zu erforschen und anzuerkennen, wie unterschiedlich sexuelle Bedürfnisse und Herzensanliegen sein können. Was mache ich mit meinen sexuellen Vorlieben, wenn mein Herz sich dabei verschließt? Was mache ich, wenn mich Vertrautheit sexuell nicht erregt? Auf diese Fragen nicht sofort eine Antwort finden zu müssen, sondern erstmal darin zu verweilen, das macht lebendig und hält uns wach.

newsage: Unterschiedliche Wünsche und Vorlieben – wenn wir es überhaupt fertig bringen, offen miteinander darüber zu sprechen, sind ein weites Widerspruchsfeld. Wie kann ich zu mir stehen, ohne dabei mein Gegenüber abzublocken?
Riek: Der berühmte amerikanische Paar- und Sexualtherapeut Dr. Schnarch nennt diese Fähigkeit „selbst-bestätigte Intimität“. Das heißt, ich muss die Bestätigung meiner Bedürfnisse nicht von anderen holen, sondern ich lerne, mich darin selbst zu bestätigen. Das ist nicht das Gleiche wie, sie erfüllt zu bekommen. Wenn ich aushalten kann, dass meine Partnerin keinen Oralsex mag, und trotzdem meinen Wunsch weiter wertschätze, dann entsteht Spielraum. Ich kann schauen, was sie eventuell braucht, um auf meinen Wunsch einzugehen, oder ich kann sehen, dass sie da tatsächlich eine Grenze hat, und mich dennoch geliebt fühlen.

newsage: Sie sprechen etwas an, was Sie treffend „Paradoxes Begehren“ nennen. Je mehr der eine Partner seine Lust zeigt, desto geringer wird die des anderen. Was steckt dahinter und, na klar, wie lösen wir es?
Riek: Wer sagt „Ich will nicht“ hat oft mehr Macht, denn er kann sich durchsetzen, ohne ein Einverständnis mit dem anderen herstellen zu müssen. Wer etwas vom anderen will braucht hingegen dessen Einverständnis. Dadurch fühlt sich oft schwach, wer mehr begehrt. Wir können das ausgleichen, indem wir unser „Nein“ als ein „Ja“ zu etwas anderem entschlüsseln und kommunizieren. Wir werden selbstbewusster, je mehr wir unsere Lust und Liebe als Geschenke erleben, unabhängig davon, ob sie erwidert werden. Ein solches Selbstbewusstsein macht attraktiv, und plötzlich bekommen wir, was wir dann gar nicht mehr so dringend brauchen.

newsage: Wie wichtig Kommunikation ist, können wir daraus schon ahnen. Viele sehen sie sogar als das große Thema des 21. Jahrhunderts. Und doch: Wir wollen liebevoll miteinander umgehen, quälen aber keinen so wie die, die uns am nächsten stehen. Schrecklich, nicht? Oder ganz normal?
Riek: Ganz normal schrecklich. Aber noch schrecklicher finde ich, dass wir so große Mühe haben, uns diese Dinge überhaupt einzugestehen. Uns die ganze Wahrheit einzugestehen ist ein wichtiger Schritt zu wirklicher Liebe, die nichts ausschließen muss.

newsage: Meine Wahrheit – deine Wahrheit, auch das kann quälend sein. Oft stehen sie sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Wie können wir im Dilemma der Widersprüche die allem zugrunde liegende Verbundenheit erleben? Immer vorausgesetzt, es gibt sie?
Riek: Ja, es gibt sie. Wir erleben sie aber nur dann, wenn wir nicht versuchen, sie selbst herzustellen, denn das wäre immer nur ein Ersatz. Wenn wir nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch begreifen, dass unversöhnliche Wahrheiten nichts anderes sind als Spiegel unserer begrenzten Wahr-Nehmung, dann erleben wir eine Befreiung aus den Begrenzungen unserer egozentrischen Perspektiven.

newsage: Und was ist dann mit dem Ego? In spirituellen Kreisen gern verteufelt, brauche ich es doch, um im Alltag zu bestehen. Wie gehe ich mit dem Widerspruch um, autonomer Teil eines großen Ganzen zu sein?
Riek: Wir brauchen unser Ego, um uns als autonom zu erleben und entsprechend zu handeln, und wir müssen es loslassen können, um uns dem großen Ganzen hinzugeben. Auch hier braucht es im Kern nicht mehr und nicht weniger, als anzuerkennen, dass dies ein unlösbarer Widerspruch ist und dass wir Menschen dazu befähigt oder auch verdammt sind – je nach Perspektive – mit diesem Widerspruch zu leben. Und plötzlich lieben wir ihn und in dieser Liebe ist er aufgehoben. Und niemand kann erklären, wie und warum das geht. Es ist ein Mysterium.

Das vollständige Interview unter:
www.herzensfeuer.info

BUCH-TIPP
Riek, Saleem M.
Herzensfeuer
380 Seiten, € 18,90
ISBN: 978-3-939570-19-6
Hans-Nietsch-Verlag