Die lebensbejahende Botschaft des Kamasutra
Auch im alten Indien mit seinem bunten Götterhimmel, seiner tief verwurzelten Spiritualität und der scheinbar mühelosen Vereinigung körperlicher und geistiger Bedürfnisse, war eine Lösung der ganz besonderen Art von Nöten, um die hierarchische Kasten- und Klassengesellschaft von ihren strikten Moralvorstellungen zu befreien: das Kamasutra.
Im Indien des dritten Jahrhunderts war im höfischen Umfeld vieles dem ähnlich, was in der europäischen Neuzeit für Widerstand und Querelen gesorgt hatte: ein absolutistisches Kastensystem, an das die Menschen von Geburt an gebunden waren und eine politisch wie spirituelle Totalreglementierung, die jedes kleinste Detail des Lebens durch Belege uralter heiliger Schriften zu stützen suchte. Im Mittelpunkt stand das unabdingbare Erlangen der drei besonderen Güter des Lebens: Dharma, Artha und Kama. Dharma, das spirituelle Wohl durch Befolgen religiöser Richtlinien, erhält in den klassischen Texten oberste Priorität. Artha, der Erwerb materieller Güter und Besitztümer, folgt noch vor Kama, dem Gut der niedrigsten Priorität. Kama, der sinnliche Genuss oder die niederen Gelüste, beziehen sich nicht nur auf die Sexualität, sondern auf alle instinktiven Regungen des Körpers wie beispielsweise ein knurrender Magen oder die Lust auf Süßigkeiten.
Mit „Verse des Verlangens“ könnte man also den Originaltitel „Kamasutra“ übersetzen, dessen Autor Mallanaga Vutsyayana sich mit dieser zeitlosen Schrift einen festen Platz in der indischen Literaturgeschichte gesichert hat. Seit der ersten europäischen Übersetzung im Jahre 1884 wird das Werk bei uns meist als eine Anleitung missverstanden, die sich ausschließlich der Praxis verschiedener Sexualstellungen widmet. Die streng moralische und prüde Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts wusste mit diesem Werk noch weniger anzufangen – entweder verteufelte sie es als pornographisches Schriftgut oder konsumierte es heimlich als Pornographie, ohne genauer hinzusehen.
Wer im Original jedoch achtsam liest, wird feststellen, dass es sich beim Kamasutra vielmehr um ein ethisches Werk über Liebe, Leben, Erotik und Partnerschaft handelt, das ganzheitlich sinnliche Faktoren, gleichberechtigtes Lustempfinden und ein harmonisches Miteinander voraussetzt, bevor es sich überhaupt an die körperliche Vereinigung heranwagt.
Die ausführlichen Beschreibungen der verschiedenen Sexualstellungen und der erotischen Praxis stellen im Rahmen des kulturellen Umfeldes, in dem sie entstanden, eine revolutionäre und notwendige Befreiung von den strengen Normen dar. Die Lust am Liebesspiel, am sinnlichen Vergnügen und an der körperlichen Hingabe sollte fortan in harmonischem Gleichgewicht mit den kultureller Bestrebungen einen festen Platz in der indischen Gesellschaft einnehmen. Das Kamasutra hat die Menschen in Indien von ihrer strengen Reglementierung befreit, ihnen das Vergnügen an ihrer eigenen Leiblichkeit zurück gegegeben und ist somit sicher nicht als rein „technisches“ Übungsbuch zu verstehen.
In den einzelnen Kapiteln geht es zunächst um den Sinn des Lebens und um Partnerschaft im Allgemeinen, bevor die typischen Verhaltensweisen von Paaren wie Werben, Flirten und Reizen beschrieben werden. Dann folgen Themen wie Hochzeit und der Genuss körperlicher Liebe, zu der ganz selbstverständlich Streicheln, leichtes Kratzen und Beißen, Oral- und Geschlechtsverkehr gehören.
Sehr ausführlich widmet sich das Kamasutra dem Vorspiel, der Mannigfaltigkeit der Küsse und den Variationen einzelner Stellungen. Dabei spielen Vorschriften und Leistung keine Rolle. Die Leser werden zur freien persönlichen Inspirationssuche eingeladen, die Unendlichkeit der sinnlichen Vergnügen zu entdecken und zu erleben und die harmonische Kraft der männlich-weiblichen Verschmelzung zu erfahren.
Das Kamasutra unterstützt das natürliche Verlangen und lädt ein, Sinnlichkeit, Intensität und Sensitivität zu entdecken und zu entwickeln, indem auch äußerliche Faktoren beachtet werden. Verführerische und exotische Gerüche geben dem Raum eine sinnliche Note. Samt, Seide oder Satin als Bettwäsche verführen die Haut. Kerzenschein oder gedimmte Lichtquellen wirken harmonisch und einladend. Eine passende musikalische Untermalung und erotische Naschereien verstärken die lustvollen Empfindungen. Das Ausprobieren der neuen und doch so alten Techniken und Ideen des Kamasutra erweitert den sinnlichen Spielrahmen und führt zu mehr Tiefe. Momente der unbändigen Lust verwandeln sich in Stille und Zuneigung; Tempo und Erregung werden mit Ruhe und Innigkeit kombiniert.
Im Rahmen einer neuen Filmreihe hat „Busch Production“ gerade eine aufwendige DVD mit dem Titel „Kamasutra“ herausgegeben, die ganz nach dem Vorbild von Bollywood-Filmen die klassischen Kamasutra-Texte mit viel Musik und farbenfroher Ekstase ins Bild übersetzt. Die FSK-18 Produktion ist für alle Paare gedacht, die sich dem verführerischen Flair und der inspirativen Kraft dieses alten Werkes hingeben möchten. Als Vorlage für das Drehbuch wurden die Original- Zeichnungen übernommen, um so einen authentischen Film zu schaffen, der sich an den Jahrtausende alten Überlieferungen orientiert. Dazu zählen neben den Liebestechniken für eine erfüllte Sexualität natürlich auch all die Weisheiten, die das Zusammenleben von Mann und Frau betreffen.
Die grundlegende Bedeutung des Kamasutra liegt in der gelebten Erkenntnis, dass Sexualität zum normalen Alltag des Menschen gehört – genau so wie Essen oder Schlafen. Liebe, Lust und Sinnlichkeit sind Teil von uns und fließen in alle Lebensbereiche mit ein. Das besonders Kraftvolle am Kamasutra ist, dass es in der Lage ist, uns den richtigen Weg zu weisen: „Der Weg der Mitte“ ist nicht nur im gesellschaftlichen Leben, sondern auch in der Liebe und der Sexualität zu erreichen. Die Randbereiche zu erforschen und sich dadurch wieder in die neu entdeckte Mitte zurücktreiben zu lassen, ist die verantwortungsvolle und erregende Aufgabe, der sich die Praktizierenden hingeben dürfen. Das Kamasutra, in seiner Natürlichkeit ein zeitloses Dokument, bietet dabei einen geschützten und ethischen Rahmen, in dem Sexualität in eine neue, freiere Form überführt werden kann.