Unerbittliches Mitgefühl

Bis heute beeinflusst die weltbekannte Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross die Forschung zum Leben nach dem Tod. Die schweizerisch-amerikanische Ärztin und Psychiaterin hat unzählige Male Sterbende begleitet, deren Erfahrungen aufgezeichnet und dadurch einen neuen Umgang mit dem Thema Tod initiiert.

Am 8. Juli 1926 wurden dem schweizer Ehepaar Kübler Drillinge geboren – damals ein seltenes Ereignis. Es waren Frühchen und sie überlebten, auch wenn zu jener Zeit die Überlebenschancen für Frühgeborene viel geringer waren als heute. Die Erstgeborene war Elisabeth, die gerade einmal zwei Pfund wog. Sie sollte einst als Ärztin und Autorin Weltruhm erlangen.

Elisabeth Kübler-Ross schrieb ein Dutzend Klassiker zum Thema Sterben. Eines der bekanntesten Bücher war »Interviews mit Sterbenden«, das sie im Jahr 1969 verfasste und das fünf Stadien des Sterbens beschreibt – Ergebnis ihrer Arbeit mit Hunderten amerikanischen Patienten, die sterbenskrank waren. Die Beobachtungen von Kübler-Ross stellen den Grundstein der heutigen Erkenntnisse über den Sterbeprozess dar.

Elisabeth erlebte bei ihrer Arbeit im Krankenhaus Menschen im Endstadium, »die um Ruhe, Frieden und Würde baten, aber Infusionen, Transfusionen und Herzmaschinen erhielten«, wie sie sagte. Es belastete sie, dass sterbende Menschen vom medizinischen Personal gemieden und häufig über ihren tatsächlichen Zustand im Unklaren gelassen wurden. Die junge Ärztin hatte den Mut, sich zu den Sterbenden zu setzen und ihnen zuzuhören.

Ihre Kollegin D. Brookes Cowan erzählt, dass Kübler-Ross nur zwei Dinge in ihrem Leben bedauerte: »dass sie nicht genügend Unfug gemacht und nicht genug getanzt hatte.« Elisabeth war eine streitbare, rebellische, aber auch humorvolle Frau, die ihren Freunden gern Streiche spielte und sich furchtlos und öffentlich über alle möglichen Verbote hinwegsetzte. »Sie schwelgte in ihrer Widerborstigkeit und nannte uns gnadenlos Feiglinge und Gutmenschen, weil wir uns über die Folgen ihrer Taten Sorgen machten«.

Kübler-Ross‘ Ziel war es, von den Sterbenden selbst zu erfahren, wie man mit ihnen umgehen sollte und welche Hilfe sie brauchten. Zu diesem Zweck führte die engagierte Ärztin die Interviews. Die Betroffenen wurden während der Gespräche direkt auf ihre Gefühle und Gedanken zum Tod und zum Sterben angesprochen. Während ihre Ärztekollegen sich über das Vorgehen erregten, nahmen von 200 Patienten 198 die Möglichkeit zur Aussprache dankend an.

Durch das Buch der Schweizerin wurde vom Thema Sterben und Tod der Schleier des Schweigens entfernt. Man begann, über das Tabuthema zu reden. Durch zahllose Workshops und Vorträge, die Elisabeth bald rund um den Globus abhielt, gab sie insbesondere Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und Seelsorgern entscheidende Impulse zum Umgang mit sterbenden und trauernden Menschen. Selbst in ihren Vorlesungen ließ Kübler-Ross Menschen, die vor dem Tod standen, zu Wort kommen.

Die Berichte der Sterbenden zeigten dabei eine durchgängig ähnliche Struktur auf. Alle Betroffenen durchliefen einen Prozess in fünf Stadien, die Leugnung, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz genannt wurden.

Die fünf Phasen des Sterbens
Kübler-Ross definierte die heute anerkannten fünf Phasen des Sterbens. Sie bezog diese Phasen ursprünglich auf jede Art von großem persönlichem Verlust, da sie bei Sterbenden wie deren Angehörigen gleichermaßen auftraten.
Die fünf Phasen sind unbewusste Strategien zur Bewältigung extrem schwieriger Situationen, Strategien, welche nebeneinander bestehen und unterschiedlich lang dauern können. Dabei gibt es keine feste Reihenfolge. Die Phasen können sich zudem wiederholen oder ganz ausbleiben.

  • Phase 1: Leugnung
    Die negative Situation wird zuerst geleugnet. »Das kann nicht sein«, ist eine Phrase, die diesem Stadium entspricht.
  • Phase 2: Zorn
    Der Patient verspürt Neid auf die Weiterlebenden. Die Umwelt bekommt seine Gereiztheit und Wutausbrüche zu spüren.
  • Phase 3: Verhandeln
    Eine flüchtige Phase, in der eine kindliche Verhaltensweise zu Tage tritt. Der Betroffene hofft durch »Kooperation« auf Belohnung und Verschonung.
  • Phase 4: Depression
    Trauer über den drohenden Verlust entsteht. Ohne subjektives Kennen dieser Angst und Verzweiflung kann die nächste Phase nicht erreicht werden.
  • Phase 5: Akzeptanz
    Der Betroffene akzeptiert seine Situation. Der Sterbende z. B. erwartet ruhig den Tod. Die Phase ist frei von Gefühlen und Kampf.

Ihrem Buch »Interviews mit Sterbenden« folgten zahlreiche weitere Publikationen, die allesamt von Elisabeths großem Mut und auch einer gehörigen Portion Sturköpfigkeit zeugen. Kübler-Ross setzte sich schon während ihrer Studienzeit und ihrer Arbeit als Landärztin in der Schweiz für Würde und Mitgefühl Patienten gegenüber ein. Schon immer suchte sie nicht den leichten Weg, sondern trat auch in schwierigen Zeiten für Gerechtigkeit und Menschlichkeit ein.

Sie schloss ihr Medizinstudium 1957 mit der Promotion an der Universität Zürich ab. Mit ihrem Ehemann Emanuel »Manny« Ross, einem gebürtigen Amerikaner, siedelte sie 1958 in die USA über. Dort war sie als Psychiaterin in bedeutenden Krankenhäusern tätig und wurde 1985 Professorin an der Universität von Virgina.

Die Autorin Joan Halifax erinnert sich: »Rückblickend würde ich Elisabeths Mitgefühl unerbittlich nennen. Sie setzte klare Prioritäten und zielte auf die Wahrheit ab – ein Pfeil, der ins Schwarze traf. Sie war mutig, entschlossen und voll Leidenschaft. Es gab keine Zuckerglasur, ja, überhaupt keine Glasur. Da war nur diese unerbittliche, großartige Frau, die wusste, was sie wollte, und vor nichts zurückschreckte, um es für andere zu kriegen.«

Während ihr Frühwerk (insbesondere die Beschreibung der fünf Sterbephasen) breite Anerkennung fand, wurde am Spätwerk Kübler Ross‘ vermehrt Kritik geäußert. Ihr Buch »Über den Tod und das Leben danach« machte besonders viel Furore. »Der Tod ist ein Hinübergehen in einen neuen Bewusstseinszustand, in welchem man fortfährt, zu fühlen, zu sehen, zu hören, zu verstehen, zu lachen und wo man befähigt ist, weiterhin (seelisch und geistig) zu wachsen«, erläuterte die Ärztin.

Ihre Beschäftigung mit dem Phänomen Nahtod-Erfahrung brachte ihr unter Wissenschaftlern wenig Lob, da sie ein Leben nach dem Tod und auch die Reinkarnation als »wissenschaftlich bewiesen« ansah. In der filmischen Dokumentation des Lebens von Elisabeth Kübler-Ross mit dem Titel »Dem Tod ins Gesicht sehen« sagte sie: »Heute bin ich sicher, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Und dass der Tod, unser körperlicher Tod, einfach der Tod des Kokons ist. Bewusstsein und Seele leben auf einer anderen Ebene weiter. Ohne jeden Zweifel.«

Ihre Kritiker meinten, sie würde Sterben und Tod verharmlosen und beschönigen. Als sie später in ihrem Zentrum Shanti Nilaya (Sanskrit für »Heim des Friedens«) in Escondido, Kalifornien, auch spiritistische Sitzungen abhielt, wurde für die Welt der Wissenschaft klar, dass sie sich offiziell von dieser entfernt hatte.

Auch ihr Buch zur Aidsproblematik wurde heftig kritisiert, in dem sie Aids als »apokalyptische Herausforderung der Menschheit« bezeichnete. Ihr Plan, ein Hospiz für AIDS-kranke Kinder zu errichten, sollte scheitern. Ihr Engagement für kranke Kinder war dennoch groß.

Elisabeth Kübler-Ross in ihrem Garten in Scottsdale, Arizona / USA.

Das 1992 in Deutschland erschienene Buch »Über den Tod und das Leben danach« markiert somit einen Wendepunkt in der Tätigkeit der Sterbeforscherin. Es verlässt das Terrain der Psychologie des Sterbens und der praktischen Sterbehilfe und befasst sich mit den esoterischen und philosophischen Aspekten des Todes. Es basiert auf Interviews mit rund 20.000 Menschen, die von ihren Nahtoderfahrungen berichten. Die Grenzerfahrungen von Menschen, die über die Schwelle des Todes gegangen und wieder zurückgekommen sind, stellten für Kübler-Ross den Beweis dar, dass es den Tod gar nicht gibt. Dieser sei nur der Übergang in eine andere Dimension. So wie ein Schmetterling den Kokon verlasse, so würde der Mensch nach dem Tod nur seine sterbliche Hülle verlassen und auf einer anderen Ebene weiter bestehen, erklärte sie.

Elisabeth Kübler-Ross sowie der bekannte Nahtod-Forscher Raymond A. Moody dokumentieren durchweg positive Nahtoderlebnisse. Dazu gibt es jedoch auch Gegenstimmen.

Herzspezialist Pim van Lommel beschrieb im medizinischen Fachblatt »The Lancet« eine Befragung von 344 Patienten, die alle einen Herzstillstand erlitten hatten. Sie wurden kurz nach ihrer Wiederbelebung nach ihren Erfahrungen befragt. Nur 18 Prozent von ihnen berichteten die klassische Version von Tunnel, Licht und außerkörperlicher Erfahrung.

Auch der Kardiologe Maurice S. Rawlings stellte fest, dass sich nur rund 20 Prozent der Wiederbelebten an Nahtoderfahrungen erinnern. Dr. Rawlings schreibt, dass von den 20 Prozent derjenigen mit Nahtoderlebnissen 50 Prozent Negatives erlebt hätten. In ihren Erfahrungsberichten führte der »Tunnel« abwärts in dunkle Höllenbereiche mit Quälgeistern und gewalttätigen Wesen.

Im Tibetischen Totenbuch wird erläutert, dass nach dem Tod verschiedene Bereiche durchquert werden müssen, solche, die wunderschön und angenehm sind, und solche, die grauenerregend sind. Diese Erkenntnisse der Tibeter könnten eine Erklärung für die gegensätzlichen Forschungsergebnisse sein.

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In der newsage-Ausgabe 2/2012 finden Sie weitere Beiträge zum Thema »Nahtodforschung«.

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Während Sterbende ihr von außerkörperlichen Erfahrungen und jenseitigen Erlebnissen berichteten, ereigneten sich mit der Zeit auch in Kübler Ross‘ eigenem Leben spirituelle und außerkörperliche Erlebnisse. Sie berichtete: »Ich habe viele wunderbare mystische Erlebnisse gehabt, vom kosmischen Bewusstsein bis zur Begegnung mit meinen geistigen Führern, obwohl ich aus einem konservativ-protestantischen, autoritären Milieu stamme, nie ein höheres Bewusstsein angestrebt habe und dieses in früheren Zeiten auch nicht verstanden hätte. (…) Ich habe die größten Höhepunkte erlebt, ohne jemals Drogen genommen zu haben. Ich habe das Licht gesehen, das meine Patienten erblicken, wenn sie an die Schwelle des Todes kommen, und ich war umgeben von der unglaublichen, bedingungslosen Liebe, die wir alle erleben, wenn wir uns zu dem Übergang anschicken, den wir Tod nennen.«

In der Kübler-Ross-Biografie von Autor Derek Gill erzählte die unbeirrbare Forscherin außerdem von einer konkreten Reinkarnationserfahrung, bei der sie sich als junge Indianerin wiedererkannte. Das entscheidendste mystische Erlebnis war für sie wohl die Begegnung mit dem Geist einer Frau, die zehn Monate zuvor gestorben war. Diese Frau bat sie darum, weiter am Thema Nahtod zu forschen, etwas, das Elisabeth damals für sich entscheiden musste.

Ab 1980 sprach die Psychiaterin auch in der Öffentlichkeit von ihren Begegnungen mit Geistern und ihren Schutzgeistern. Sie ließ sich von diesen beraten und inspirieren. Es gab aber auch Erlebnisse in diesem Bereich, die sie kritisch sah. So entfernte sie sich aus dem Kreis einer spiritistischen Gruppe, als sie merkte, dass die Teilnehmenden dort negativ beeinflusst wurden.
Elisabeth selbst erschloss sich durch die Beschäftigung mit dem Sterbeprozess und der Frage, was nach dem Tod kommt, eine ganz neue Dimension. Die Erkenntnis etwa, dass es Reinkarnation gab, eröffnete ihr eine ganz neue Perspektive auf ihre Arbeit. In einem Interview sagte sie: »Die Arbeit mit Sterbenden hat mir auch dazu verholfen, meine eigene Identität zu finden, zu wissen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, und zu wissen, dass wir eines Tages wiedergeboren werden, damit wir die Aufgaben erfüllen können, die wir in diesem Leben unfähig oder nicht willens waren zu erfüllen.«

Sie lernte aus ihren Erkenntnissen, dass »leben lernen, lieben lernen« heiße, wie sie häufig in ihren Vorträgen erläuterte. Es war ihr ein großes Anliegen, ihre Fähigkeit zu lieben zu erweitern und in die Welt zu tragen. Diese Absicht verlor sie nie aus den Augen.

Interview
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Erfolge und Lebensende

Auch wenn Elisabeth Kübler-Ross in ihrer späteren Lebensphase nicht mehr den gängigen wissenschaftlichen Erwartungen entsprach, wurde sie doch außerordentlich oft akademisch ausgezeichnet. Für ihre Leistungen zwischen 1974 und 1996 wurden ihr 23 Ehrendoktorate an verschiedenen Universitäten und Colleges verliehen. Darüber hinaus erhielt sie über 70 nationale und internationale Auszeichnungen. Das Nachrichtenmagazin TIME zählte sie 1999 zu den »100 größten Wissenschaftlern und Denkern« des 20. Jahrhunderts.

In einem Interview blickte Kübler-Ross auf ihr Leben zurück: »In der Schweiz wurde ich nach dem Grundsatz erzogen: arbeiten, arbeiten, arbeiten. Du bist nur ein wertvoller Mensch, wenn du arbeitest. Dies ist grundfalsch. Halb arbeiten, halb tanzen. Das ist die richtige Mischung! Ich selbst habe zu wenig getanzt und zu wenig gespielt.«

Kübler-Ross wandte sich zeitlebens gegen die aktive Sterbehilfe. In den USA gründete sie Hospize, wo unheilbar kranke Menschen im Sterben begleitet wurden. In Washington gründete sie ein Haus für todkranke Kinder. Würde und Lebensqualität sollten den Sterbenden bis zum Schluss erhalten bleiben. Geholfen wurde mit Schmerztherapien und dem Eingehen auf geistige und soziale Bedürfnisse der Patienten. Solche Hospize etablierten sich auch in Europa, allerdings in geringerem Ausmaß.

Die Sterbeforscherin selbst durchlebte eine lange Sterbephase. 1995 erlitt sie einen Schlaganfall, auf den zwei weitere folgten, die sie an den Rollstuhl fesselten. Sie verstarb am 24. August 2004 in Scottsdale, Arizona. Ihr Beitrag zu einem natürlichen und menschlichen Umgang mit dem unausweichlichsten aller Themen ist bis heute von unschätzbarem Wert. Ob es ein Leben nach dem Tod nun gibt oder nicht: In der Erinnerung unzähliger Menschen wird Elisabeth Kübler-Ross sicher für immer lebendig bleiben.

Buch-TIPP
Elisabeth Kübler-Ross
Über den Tod und das Leben danach

128 Seiten, € 9,95
ISBN: 978-3-89845-365-3
„Die Silberschnur“