Die Landschaft der Schamanen

Der Schamanismus gilt als älteste Religion der Welt und seine Spuren lassen sich bis in die früheste Steinzeit zurückverfolgen. Im Laufe der Jahrtausende hat er verschiedene Formen angenommen, die so vielfältig sind wie die Kulturen dieser Erde – und gerade jetzt, in unserer modernen Zeit erlebt er eine Renaissance. Welchen Reiz übt heute eine archaische Weltanschauung aus, die auf uralten Ekstasetechniken beruht, die es dem Schamanen erlauben, in andere Welten zu reisen, um dort von Göttern und Geistern Wissen, Weisheit oder Heilung zu erlangen? Gibt es jene Anderswelten wirklich oder beschreiten Schamanen lediglich einen Weg in innere Räume des Bewusstseins? Diesen und ähnlichen Fragen sind wir mit den Experten Paul Devereux und Wolf-Dieter Storl nachgegangen und dabei in die geheimnisvolle „Interwelt“ vorgestoßen, in der sich Alltagswelt und Anderswelt berühren: die wahre Landschaft der Schamanen.

Bereits in prähistorischen Zeiten nahmen Schamanen einen besonderen Platz in ihrer Gesellschaft ein – eine Position, die aus heutiger Sicht vielleicht mit der eines Psychologen, Heilers und Priesters in Personalunion zu vergleichen ist, eine religiöse, spirituelle und zugleich weltliche Autorität, die in unserer modernen Welt kein echtes Gegenstück kennt. „Die Rolle des Schamanen“, erklärt der bekannte Bewusstseinsforscher Paul Devereux, „erwuchs aus Animismus und Totemismus, aus dem allgemeinen Gefühl der Spiritualität, die, so nahmen es die Menschen der Frühzeit wahr, die gesamte Natur durchdrang. Es war die erste bewusst religiös motivierte Rolle, und sie steht am Anfang der vielen großen Religionen der auf die Stammesgemeinschaften folgenden Gesellschaften.“

So hat zum Beispiel der Tibetische Buddhismus zahlreiche schamanische Praktiken aus der alten tibetischen Bön Religion übernommen und auch in vielen anderen Kulten finden sich Spuren und Elemente, die auf einen schamanischen Ursprung hindeuten. Der ekstatische Trancetanz der Derwische in der Sufi-Tradition ist ein solches Element genauso wie viele andere mystische Praktiken in den großen Weltreligionen. Vom Fasten über das Trommeln bis hin zum rituellen Verbrennen von Räucherwerk und dem Gebrauch sakraler Drogen – all dies sind ursprünglich schamanische Hilfsmittel und Techniken, um in Trance zu geraten und das Tor zu anderen Welten, die „Pforten der Wahrnehmung“ zu öffnen.

„Schamanen waren, Techniker des Heiligen, die Experten für das Jenseits‘, die ‚Techniker des Übernatürlichen‘“, sagt Devereux. „Der Religionswissenschaftler und bedeutende Schamanismus- Forscher Mircea Eliade definiert den Schamanen als jemanden, der, darauf spezialisiert ist, in einen Trancezustand zu fallen, in dessen Verlauf, so der Glaube, die Seele seinen Körper verlässt und entweder zum Himmel hinauf- oder in die Unterwelt hinabsteigt‘. Wie wir sehen werden, ist dies das Schlüsselelement des Schamanismus – die Fähigkeit, im Geiste anscheinend zu den Anderswelten oder durch die Umgebung zu reisen, entfernte Ereignisse zu beobachten, Ahnen oder andere Geister zu treffen oder nach Wegen in die Unterwelt zu suchen. Dies wurde durch das erreicht, was heute als außerkörperliche Erfahrung bezeichnet wird, bei der die Seele des Schamanen in ein Tier fährt bzw. dessen Gestalt annimmt oder einfach als körperloser Ort des Bewusstseins ‚exterio-risiert‘ wird und einen ‚magischen Flug‘ antritt. Das ist die grundsätzliche Bedeutung von ‚Ekstase‘ – ‚außer sich geraten‘“.

Der Kulturanthropologe und Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl erklärt, was es mit der ekstatischen Trance der Schamanen auf sich hat: „Die Trance ist wie eine Ablösung vom Alltagsbewusstsein oder vom Alltag. Das Hirn ist wie ein Reduktionsventil, es schaltet viele der Stimuli, also der Eindrücke aus, damit wir uns auf das, was uns gerade angeht, fokussieren können. Und in Trance ist es so, dass sich das Bewusstsein erweitert. Es ist eine Ego-Entgrenzung, man kann auch sagen, dass sich die Seele oder der Astralleib vom Körper trennt, das heißt, der energetische Leib und der materielle Leib, die bleiben da, und die Seele trennt sich. Das ist auch ganz normal, wenn man einschläft, dann kann die Seele reisen. Meistens merkt man es nicht, weil das Bewusstsein ausgeschaltet ist.“

Alltagswelt und Anderswelt
„Es gibt viele verschiedene Welten, verschiedene Dimensionen“, sagt Storl in Bezug auf die „Reiseziele“ der Schamanenseele. „Und die Reisen der Märchenhelden oder Sagenhelden sind meistens Reisen in diese Dimensionen. Die Geschichten sind wie Landkarten der Seele. Und die Schamanen sind darum immer auch Märchenerzähler. Was für uns wie ein Märchen erscheint – wie soll man diese wunderbaren Welten anders ausdrücken?“ In Märchen und Mythen drückt sich also, genau wie in den Reiseberichten der Schamanen, eine Topographie verschiedener Welten aus, die ihre Wurzeln im schamanischen Weltbild hat. „Die grundlegende Kosmologie des Schamanismus bestand aus drei Welten“, erklärt Devereux: „die mittlere Welt der menschlichen Realität, die obere der Geistwesen und die Unterwelt der Schatten. Dieses Grundmodell, das natürlich in der christlichen und vielen anderen Kosmologien seine Spuren hinterlassen hat, bildete weltweit viele Varianten aus, darunter z.B. solche mit sieben oder neun Welten. Der Zugang zu diesen Anderswelten erfolgte über eine sie verbindende konzeptionelle Achse – einen Weltenbaum, einen kosmischen Berg oder über Elemente, die eine solche Achse symbolisierten, wie z.B. eine Zeltstange, Rauch, der durch den Abzug eines Zelts stieg, ein Sonnenstrahl, ein Seil oder eine Leiter. Indem er im Trancezustand symbolisch entlang dieser Achse reiste, konnte der Schamane zum Himmel hinauf- oder tief in den Körper der Erde, die Unterwelt, herabsteigen. Seinen mythologischen Ausdruck findet dies in der nordischen Legende des schamanischen Herrschers Odin, der sich an den Weltenbaum Yggdrasil hängte. Man beachte die Analogie zu Christus, der an ein Kreuz geschlagen wurde.“

„Es ist dieses Konzept der Weltachse“, ergänzt Devereux, „das im Schamanismus Seele und Land miteinander verbindet. Im eigentlichen Sinne ist die Weltachse (axis mundi) der Omphalos, die Mitte, der Punkt, von dem aus der heilige Kreis, Temenos, und die vier Haupthimmelsrichtungen ausgehen und den Horizont in vier Abschnitte teilen. Sie ist eine räumliche Erweiterung der ‚Richtungen‘ – vorne, hinten und seitlich – des menschlichen Körpers. Die Kennzeichnung des Omphalos ist die erste große Handlung der Geomantie oder heiligen Geografie, an die heute noch beim Hausbau durch das Legen eines Grundsteins erinnert wird. Der Omphalos ist das Zentrum eines Kreises, dessen Umfang überall und nirgends verläuft. Er ist der Nabel der Welt, Ort der Speisung und der Erkenntnis. Letztlich repräsentiert er in der Landschaft die Seele.“

„Wir alle befinden uns im Zentrum unserer Universen“, betont Paul Devereux an anderer Stelle, „über unseren Köpfen die Himmelskuppel, um uns der Horizont, auf Augenhöhe, auf uns ausgerichtet. Die Welt beschreibt einen Kreis um uns herum – sie ist vor uns, hinter uns, an den Seiten. Das Zentrum ist unser Punkt der Wahrnehmung, unser Bewusstsein. Übertragen in die Landschaft wird es zur heiligen Mitte, von der aus der Raum aufgeteilt und die natürliche (astronomische) Zeit festgelegt wird sowie der Zugang zu den Anderswelten möglich ist. Der Omphalos ist der mythische Punkt, an dem bildlich gesprochen die vertikale Achse des Geistes die horizontale Ebene der materiellen Welt kreuzt, eingebunden in das Rund weltlicher Zeit. Dieses Psychogramm ist das Mandala von Raum, Zeit und Bewusstsein. Und wer reist zur Axis mundi, um die Anderswelten aufzusuchen? Der Schamane.“

Wirklichkeit oder Illusion?
Aber sind diese Anderswelten nun real oder nur Hirngespinste und Halluzinationen, die uns unser Gehirn unter Drogeneinfluss oder in Trance vorgaukelt? Devereux gibt zu bedenken, dass auch unsere Alltagswahrnehmung letztlich in unserem Bewusstsein entsteht beziehungsweise zusammengesetzt wird und somit nur eine Interpretation einer „wirklichen Welt“ ist, die wir letztlich niemals greifen können. Ob die alternative Wahrnehmung eines Schamanen nun „wirklicher“ oder „unwirklicher“ ist als das, was wir gemeinhin für wirklich halten, bleibt dahingestellt.

Und Wolf-Dieter Storl meint: „Eigentlich gibt es keine Anderswelt. Das ist alles diese Welt, unsere Welt. Doch wir nehmen mit unserem Alltagsbewusstsein nur einen beschränkten Teil davon wahr, und wenn das Bewusstsein sich erweitert, wie es in schamanischen Zuständen sein kann, dann nehmen wir eben andere Sachen wahr. Ein Beispiel: Was nehmen Hunde oder Bären mit ihren wunderbaren Riechapparaten wahr? So ein Bär kann ein Weibchen 30 Kilometer weit riechen. Er lebt in einem Universum, das voller Gerüche ist – das entgeht uns. Aber es ist Teil dieser Welt. Und Teil dieser Welt sind auch bestimmte Kräfte und bestimmte Energien, Seelenkräfte, die dann die Form von Elementarwesen oder Göttern im Spiegel unserer Seele annehmen. Aber es ist eben ein Teil dieser Welt.“

Im halluzinogenen Drogenrausch nimmt man auch nicht unbedingt eine andere Welt wahr – es ist vielmehr so, dass sich die Wahrnehmung erweitert. Aldous Huxley sprach in dieser Hinsicht von den Antipoden der alltäglichen Bewusstheit, die uns erst einmal genauso fremd vorkommen, wie die Kängurus in Australien: „Alles, was diejenigen, die die Antipoden des menschlichen Bewusstseins besuchen, sehen, strahlt in hellem Glanz und scheint von innen heraus zu leuchten. Alle Farben sind so intensiv, wie man es im normalen Zustand niemals sieht. … Die sich einstellenden Visionen … zeichnen sich immer durch überaus intensive und man möchte fast sagen übernatürlich leuchtende Farben aus“.

Schamane bei einer Feuer-Zeremonie

Genau diesen Zustand bezeichnet Devereux als „Interwelt“ und bringt ihn wie zuvor schon Huxley mit der Rückkehr ins nur scheinbar verlorene Paradies in Verbindung: „Um die paradiesische Interwelt sehen und erfahren zu können, sind also ganz klar veränderte Bewusstseinszustände nötig. Ihr Inhalt ist sensorischer Art, und die einzige Quelle sensorischen Materials sind die Sinne. ‚Das Rohmaterial für diese Schöpfung stellt die visuelle Erfahrung des täglichen Lebens bereit’, erkannte Huxley, fügte jedoch hinzu, ‚dass die Formung dieses Materials mit großer Sicherheit nicht durch das Selbst erfolgt“. „Wir müssen uns vergegenwärtigen“, betont Devereux, „dass die Interwelt eine reale Erfahrung darstellt. Sie ist weder ein auf wackligen Füßen stehendes Konzept noch eine abstrakte, verkopfte Philosophie oder ein vages poetisches Bild. Sie kann eine genauso reale (oder noch realere) Erfahrung darstellen wie ein Gang durch die Straßen. … Für einige entspricht die Natur der Interwelt tatsächlich der einer Geisterwelt, einer detailgetreuen spirituellen Dimension der physischen Erde. Für andere besteht sie aus halluzinatorischen Wahrnehmungen, die aus bestimmten veränderten Bewusstseinszuständen resultieren. In gewisser Weise sind beide Auffassungen richtig – für Denker aus dem Westen schwer auszuhalten –, denn die Interwelt ist das Bindeglied zwischen Innerem und Äußerem.“

Vorstoß in die Interwelt
Was aber, wenn man zu jenen Denkern zählt und auf halluzinogene Drogen lieber verzichten möchte? Devereux empfiehlt: „Es gibt einen bestimmten veränderten Bewusstseinszustand, der für die Wahrnehmung der Interwelt besonders geeignet ist, einer, der ruhiger und zuverlässiger ist als die durch Drogen in Gang gesetzten Achterbahnfahrten, die weder besondere Meditationstechniken noch die speziellen sozialen Kontexte erfordern, die Trance-Tänze und das Trommeln bedingen. Es handelt sich um einen seltsamen Zustand, der über den Schlaf erreicht wird – ein Bewusstsein im Alarmzustand, das erreicht und aufrechterhalten werden kann, während man sich physiologisch noch im Schlafzustand befindet.“

Gemeint ist das „luzide Träumen“ oder „Klarträumen“, ein seltsamer Zustand des Bewusstseins zwischen Wachzustand und Schlaf. „Die Betrachtung dieser Phänomene wirft einiges an Fragen auf“, sagt Devereux, „nicht zuletzt deshalb, weil das luzide Träumen, eng mit außerkörperlichen Erfahrungen zusammenhängt und ihnen ähnelt. In einem luziden Traum ist sich der Träumer bewusst, dass er träumt. Der physiologische Schlaf ist ungestört. Während einige Menschen nur flüchtige Momente eines solchen Zustands erleben, kennen andere ihn sehr gut. Die Mehrzahl derer, die mit ihm nicht vertraut sind, glauben häufig irrtümlich, es handle sich nur um lebhafte Träume. Dem ist jedoch nicht so. Ich spreche von einem unverwechselbaren und sehr wichtigen Bewusstseinszustand – praktisch eine separate Realität.“

Sibirischer Schamanen-Priester mit Trommel im zeremoniellen Gewand bei einem Ritual zur Beschwörung der Geister

Der Bewusstseinsforscher hat seine eigenen Erfahrungen mit dem luziden Träumen gemacht und berichtet begeistert: „Wenn man innerhalb eines Traums ‚erwacht’, befindet man sich in einem ‚realen’ dreidimensionalen Raum. Die Kulisse zeigt sich in allen Einzelheiten, und während man sich bewegt, ändert sich die Sicht auf die Gegenstände in vollkommen authentischer Weise. Die Farben werden heller und reiner. Die Beleuchtung (‚das eigene Licht’) ist bestechend. Ein Klartraum hat aber nicht nur visuellen Charakter: Man hört Klänge und Töne, im Traum vorkommende Personen können angesprochen und befragt werden, Gegenstände lassen sich anfassen, halten, befühlen.“

Devereux schwärmt von seinen nächtlichen Ausflügen in die Interwelt: „Ich bin über wundersame, von einer inneren Sonne beschienene Landschaften geflogen, habe andere Wesen beobachtet, bin über oder durch Städte geschwebt, die in der physischen Welt niemals gebaut wurden, habe auf Wolken geschaut, die an einem Mond vorbeijagten, der niemals am irdischen Himmel schien, bin im Dämmerlicht über Klippen und Küsten unbekannter Länder gesegelt und habe dabei gehört, wie sich unter mir die Wellen an den Strandfelsen brachen. Der Realismus in solchen Erfahrungen ist total und weit stärker ausgeprägt als in den lebhaftesten Träumen und Visionen. Manchmal sind diese Erfahrungen lang und komplex, manchmal nur kurz, wie in dem kuriosen, aber sehr schönen Beispiel, in dem ich auf einer Lichtung in einem Kiefernwald ‚erwachte’. Ich nahm alles bewusst und sehr intensiv wahr. Dabei hing ich aufrecht in der Luft, meine Füße nur einige Zoll über den längsten, mit Reif überzogenen Grasspitzen, und schwebte fast unmerklich rückwärts.“

„Also doch nur eine Illusion?“, mag der im Klartraum unbewanderte Leser denken. Doch Devereux kontert: „Metaphysisch gesehen sind die Umgebungen in einem luziden Traum oder einer außerkörperlichen Erfahrung nicht mehr oder nicht weniger illusionär als diejenigen, die man im wachen Bewusstseinszustand erlebt – alles ist Maya, Illusion, außer der direkten, unverfälschten Erfahrung des Bewusstseins. Der Vorteil einer außerkörperlichen Erfahrung, des luziden Träumens, einer Interwelt-Erfahrung, oder wie man es auch immer nennen mag, besteht darin, dass die Umgebungen weniger dicht, dafür aber durchlässiger und formbarer sind. Der Schleier der Illusion, den man beiseite schieben muss, ist dünner.“ Und er fügt hinzu: „Ob die Vision der Interwelt ein rein neurologisches Konstrukt darstellt oder tatsächlich einen flüchtigen Blick auf eine andere Realitätsebene gewährt, ist kaum von Belang: Allein die Erfahrung zählt, sie allein hat die Kraft und die Macht.“

Kreative Träume
Als bekennender Klarträumer kann ich Devereux nur Recht geben, möchte aber hinzufügen, dass es zahlreiche Beispiele gibt, in denen bekannte Menschen ganz erstaunliche Erkenntnisse oder Errungenschaften aus der Welt des Traumes, aus der Interwelt in unsere alltägliche Realität gebracht haben. Vielen ist es nicht bekannt, dass zum Beispiel René Descartes einige der Grundlagen unseres modernen abendländischen Denkens in einem Fiebertraum empfing und später in seinen „Meditationes“ zu Papier brachte, oder dass Friedrich August Kekulé, der Begründer der organischen Chemie, die grundlegende Struktur des Benzolrings mit Hilfe eines Traumes entschlüsselte. Und nicht nur wissenschaftliche Erfolge kommen manchmal aus der Interwelt: Wussten Sie, dass einer der erfolgreichsten Songs der Pop- Geschichte ebenfalls dort entstanden ist?

Im Buch „Many Years From Now“ erzählt Ex- Beatle Paul McCartney, wie er die Idee zu seinem erfolgreichsten Song hatte. Sie kam ihm im Traum. Er wachte mit der Melodie im Kopf auf, ging zum Klavier und spielte „Yesterday“. Er mochte die Melodie sofort, aber da er sie geträumt hatte, konnte er sich gar nicht vorstellen, dass sie von ihm stammte. „Ich hatte noch nie so etwas geschrieben“, betont Paul McCartney.

Natürlich muss der kreative Input aus der Interwelt nicht immer gleich zu genialen Gedanken, Erfindungen oder musikalischen Welterfolgen führen. So habe ich selbst zum Beispiel das Obertonsingen im Klartraum für mich entdeckt – als ich nach einem Traum, in dem ich ein paar tibetischen Mönchen begegnet war, die ganz seltsame Töne aus mir hervorlockten, aufwachte, konnte ich auf einmal tatsächlich diese Töne hervorbringen. Eine merkwürdige und gleichzeitig kraftvolle Erfahrung!

Zurück zum Paradies
Devereux sieht ein gewaltiges Potenzial in der Erkundung der Interwelt, sei es durch luzide Träume oder traditionelle schamanische Techniken. Er resümiert: „Ich möchte damit weder der deutschen Bundeskanzlerin schamanische Trommelsitzungen vor dem Reichstag ans Herz legen (sicher wäre das ein Vergnügen), noch dem US-Präsidenten Trance-Tänze auf dem Rasen des Weißen Hauses empfehlen, auch wenn das ein riesiger Spaß wäre und in allen Bereichen der Politik zu Verbesserungen führen würde. Und ich rede auch nicht irgendeinem überdrehten, pillenwerfenden, chaotischen Missbrauch des Interwelt-Bewusstseins das Wort, das sich mit derartigen Methoden ohnehin kaum erreichen lässt. Nein, wir können ziemlich schnell Techniken zur Veränderung unseres Bewusstseins entwickeln, die unseren Zeiten und unserer Kultur angemessen sowie gesund, sicher, natürlich und nachhaltig sind. Techniken, die gesellschaftsfähig sind. …

Ob wir die Ebene der Interwelt als halluzinatorische Neuschöpfung sensorischen Materials oder als spirituellen Prototyp der materiellen Welt betrachten, spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass wir in uns – und der menschliche Geist in sich selbst – die transpersonale, zeitlose Blaupause des Paradieses tragen. Eine Blaupause, die aus dem Regal genommen und abgestaubt werden muss. Es gibt einen wichtigen Bewusstseinszustand, den wir in unserer Kultur rehabilitieren müssen.“

Wenn wir hierhin gelangen möchten, müssen wir uns zunächst öffnen, unsere Sinne neu erwecken und entdecken, um die stets vorhandene Interwelt wahrnehmen zu können. Wolf-Dieter Storl empfiehlt dazu: „Das Beste ist, sich einfach einmal auf eine Wiese zu setzen und der Natur nahe zu sein. Auf einmal kommt eine differenzierte Welt hervor, von der man sich gar nicht mehr erinnert, dass es sie gibt. All diese Gerüche, der Duft, das Riechen ist ja der Ursinn, etwas der ersten Dinge, die ein Kind macht. Es riecht die Mutterbrust, und die Mutter riecht das Kindlein, und das riecht so gut. Der Boden riecht und das Heu, was da für Geruchswelten sind. Einfach anhalten, nicht denken, sondern lauschen, lauschen. Die Natur ist eine Melodie, da zwitschern Vögel, und dann rauscht der Wind durch die Blätter. Richard Wagner, der auch ein Mystiker war – die deutsche Mystik drückt sich ja sehr stark in der Musik aus –, sagte: ‚Wenn die Leute hören könnten, dann müsste ich mich nicht so bemühen und diese Opern und diese Musik schreiben.’ Er sagt, er macht nichts anderes als nahezubringen, dass sie diesen Ozean, den wunderbaren Ozean der Klänge und Töne, der uns umgibt, wahrnehmen können.“

Paul Devereux hat stets die Grenzen zwischen etablierter Archäologie und Spiritualität ausgelotet und gilt als einer der profiliertesten Autoren auf dem Gebiet der kognitiven Archäologie und Bewusstseinsforschung. Er ist häufiger Gast auf Konferenzen und Autor in vielen Fachzeitschriften.
www.pauldevereux.co.uk

Wolf-Dieter Storl ist Kulturanthropologe und Ethnobotaniker. Er war Dozent an verschiedenen Universitäten in den USA, Österreich, der Schweiz und Indien. Reisen in viele Länder der Erde und Kontakt zu indigenen Völkern sowie zu einheimischen Bauern und Kräuterkundlern prägten sein Weltbild.
www.storl.de

BUCH-TIPP
Paul Devereux
Die Landschaft der Schamanen
200 Seiten, € 18,95
ISBN: 978-3-89901-369-6
Lüchow Verlag

BUCH-TIPP
Wolf-Dieter Storl
Schamanentum
184 Seiten, € 19,95
ISBN: 978-3-89901-365-8
Aurum Verlag