Brunnen und Quellen

Quellen und Brunnen spielen seit jeher eine große Rolle im menschlichen Leben – nicht nur als lebenserhaltende Spender köstlichen Tranks, sondern auch als Symbol der Reinheit und des ewigen Kreislaufs von Leben und Tod. Durch die Jahrhunderte hindurch wurden daher Wasser spendende Orte verehrt. Unzählige Mythen und Märchen ranken sich um tiefe Brunnen, die zu anderen Welten führen, und verführerische Wasserwesen, die mit Zauberkraft in ihr Reich locken.

Die Herkunft des Wassers auf der Erde, besonders die Frage, warum auf der Erde deutlich mehr Wasser vorkommt als auf den anderen inneren Planeten unseres Sonnensystems, ist bis heute nicht befriedigend geklärt. Als geheimnisvollstes der Elemente hat es große Kräfte und unerklärliche Eigenschaften, sogar ein eigenes Bewusstsein, das Informationen speichert und überträgt. Ohne Wasser wäre die Vielfalt an Lebewesen, wie wir sie auf der Erde kennen, nicht möglich.

Auch die Bibel lässt keine Zweifel an der bedeutenden Stellung des Elements Wasser. „Der Geist Gottes schwebte über den Wassern“, lautet einer der ersten Sätze der Bibel, in denen das erste Buch Moses über die Entstehung der Welt berichtet. Viele Kosmologien alter Kulturen berichten von einem „Urmeer“, aus dem alles hervorging. So erzählt der sumerische Schöpfungsmythos Eunuma Elisch von einem Urgewässer, aus dessen Masse sich zwei Wesen bildeten: Aspu und Tiamat. Tiamat, das weibliche „Wesen der tiefen Wasser“, barg dabei in sich alles Zukünftige schon als Idee. Inzwischen haben neuere Forschungen, besonders bezüglich der sprachlichen Herkunft alter Götternamen, sowie die Miteinbeziehung physiognomischer Tatsachen den Weg für eine weniger männlich geprägte Deutung von Schöpfungs- und anderen Mythen geebnet. Wenn „Amma“ ein Weltenei „gebiert“ oder mit Ursubstanzen gefüllte „tief innen verborgene“ Hohlkörper Keime für neues Leben in sich bergen, ist es nicht mehr ungewöhnlich, der Vermutung Raum zu geben, dass es sich auch um eine weibliche Gottheit handeln könnte.

Die große Mutter
Seit undenklichen Zeiten haben die Menschen Quellen und Brunnen verehrt. Das kostbare Nass, das einerseits wichtiger Bestandteil der Ernährung ist, andererseits jedoch auch zur körperlichen und oftmals spirituellen Reinigung dient, war schon immer ein Geschenk von Mutter Natur, welches es zu würdigen galt. In Deutschland werden besonders Quellen seit jeher mit Maria in Verbindung gebracht. Die Jungfrau und Mutter beschützt zahlreiche Orte, an denen reines Wasser aus der Erde sprudelt. In „Heilige Quellen, heilende Brunnen“ schreibt Clemens Zerling: „Elementares Aufbrechen lebendigen Wassers aus dem Erdinnern, wie bei einer natürlichen Quelle, verstand man als ursächlichen Geburtsvorgang in der Natur und im ‚fließenden‘ Leben. So verbindet sich Wasser bereits in der menschlichen Frühzeit mit dem weiblichen Elementarcharakter.“ C.G. Jung bezeichnet Wasser, welches die Mutter – das Unbewusste – in das Becken unserer Anima, den führenden Aspekt der Seele, gießt, als das lebendigste und lebenerhaltende Element des seelischen Wesens. Wenn in Märchen und Mythen vom „Wasser des Lebens“ erzählt wird, repräsentiert dies für Jung diesen nährenden, mütterlichen Aspekt unseres Bewusstseins. In der germanischen Dichtung Edda liegt die Quelle vom „Wasser des Lebens“ an der Wurzel des Lebensbaumes und ist benannt nach der ersten der drei Nornen. Die erste dieser Schicksalsgöttinnen, Urd, steht für den Anfang und die Manifestation des gesponnenen Lebensfadens eines Menschen. Urd wird im Verlauf der Geschichte des Öfteren mit Frau Holle und später mit Maria gleichgesetzt.

Frau Holle, Seelenhüterin
So personifiziert die Große Mutter die unversiegbare Quelle der Schöpfung, die das Geheimnis des Lebens und seine zyklische Grundlage im ewig gültigen Gesetz von „stirb und werde“ manifestiert. Der Kreislauf des Wassers, vom Ozean, der Verdunstung in Gang setzt, zu Regen führt, zum Fluss anschwillt oder im Boden versickert und als Quelle wieder hervorkommt, spiegelt das Wechselspiel zwischen Werden und Vergehen, dem ewigen Wandel in der Natur wider. Als Schnittstelle zwischen dem verborgenen inneren und äußerlich sichtbaren Wasserkreislauf wurden Quellen auch als Übergang von der Unter- zur Oberwelt angesehen. Insbesondere salzhaltige Quellen galten als Eintrittsorte in die Anderswelt, das Reich der Geister und Ahnen. So wie die Wasser des hellenistischen Unterweltflusses Styx die Welt der Lebenden und der Verstorbenen trennen, so wohnen in Frau Holles unterirdischem Reich die Seelen der noch ungeborenen Kinder, und die Seelen der Verstorbenen finden dort wieder den Eingang ins Totenreich. Märchenforscher Rudolf Geiger setzt Holle mit der germanischen Göttin der Unterwelt, Hel, gleich. Die ursprünglichen, empfänglichen, Form gebenden, aber auch zerstörenden Kräfte, die Frau Holle besitzt, erinnern außerdem an andere Mondgöttinnen, wie etwa Artemis, die auch Selene (gr.: Mond) genannt wird. Da auch der Mond Phasen des Anwachsens und des Abnehmens besitzt, verbildlicht er tagtäglich diese Zyklen im menschlichen Leben.

Frau Holle könnte also eine weitaus bedeutsamere Rolle in unserer Kulturgeschichte spielen, als gemeinhin bekannt ist. Es ist durchaus möglich, dass ältere Mythologien einer zyklischen Muttergöttin von den Geschichten um die Märchengestalt Holle absorbiert worden sind. So werden Frau Holle auch noch die Namen Helle, Hulde, Percht oder Berchta („die Leuchtende“) zugeschrieben. „Wohnsitze“ hat sie viele, doch wird der Hohe Meißner am häufigsten als ihr Wirkbereich genannt. Viele Örtlichkeiten hat man dort über Sagen mit ihrem Namen verknüpft. Die so genannten Hollensteine und ein Frau Holle-Teich sind nur zwei Beispiele. Die Hollensteine sollen dabei „Steinchen“ sein, die der Sage nach, im Schuh der Frau Holle drückten.

Brunnen für die Seele
Der uralte Glaube an Wunschbrunnen mag auch von den Erzählungen über Frau Holle herrühren. Im Märchen fällt ein Mädchen in den Brunnen der Frau Holle und findet sich danach in einer anderen Welt wieder, die ihr letztendlich viel Glück bringt. So wird heutzutage vielerorts eine Münze in einen Brunnen geworfen, wenn sich das Glück hold zeigen soll. Ebenso taucht das Motiv des Jungbrunnens in Verbindung mit Frau Holles Brunnen sowie dem Brunnen am Fuße des mythischen Weltenbaumes auf. Aus dem „Urd-Brunnen“ schöpfen die Nornen das alles verjüngende Wasser. Jeden Tag begießen sie damit den Weltenbaum, der dadurch immer grün bleibt. Frau Holles Wasser fungiert als Seelenbad. Wenn die Seelen Verstorbener dorthin zurückkehren, gehen sie durch das Wasser und reinigen sich. Um wieder in einen Körper zurück zu kehren, benötigen die Seelen das Bad der Erneuerung der Wasserfrau Holle.

Da der Kreislauf des Wassers ohne Anfang und ohne Ende ist, liegt die Idee der Wiedergeburt nahe. Quellen und Brunnen symbolisieren als Uterussymbol einen Zugang zur Öffnung und Schwelle zwischen den Daseinsebenen. Das Eintauchen in die Wasser des Lebens bedeutet dabei der Jungschen Psychologie nach auch eine Auslotung der eigenen Seelentiefen. Wer unversehrt hervorgeht aus dieser Tauchfahrt, erreicht eine höhere Bewusstseinsstufe. So gibt es in fast allen Religionen die Taufe und verschiedene Wiedergeburtsrituale, bei denen Wasser eine herausragende Rolle spielt. „Das Eintauchen ins Wasser ist zum Symbol der Rückbildung ins Vorformale geworden, des Vergehens von alten Formen, und das Auftauchen wiederholt wiederum das kosmische Geschehen der Formwerdung“, heißt es in „Heilige Quellen, heilende Brunnen“.

 

Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es. Zum Himmel steigt es.
Und wieder nieder zur Erde muss es. Ewig wechselnd.
Seele des Menschen, wie gleichst Du dem Wasser!
Schicksal des Menschen, wie gleichst Du dem Wind!

Johann Wolfgang von Goethe

 

Rituelle Waschungen oder die Bekreuzigung mit Weihwasser sind in vielen Religionen eine vorbereitende Handlung für das Gebet. Während die Germanen noch das aus Quellen oder Flüssen geschöpfte Wasser verehrten, sahen die Christen bloßes Wasser als Sitz böser Geister an. Das durch den Priester geweihte und mit gereinigtem Salz vermengte Weihwasser galt jedoch als Schutz gegen das Böse und Krankheiten.

Ostern
Als Osterwasser wird in der katholischen Kirche das gesegnete Taufwasser, aber auch das österliche Wunderwasser bezeichnet. Mit einem Segensgebet taucht der Priester die geweihte Osterkerze als Symbol Christi und des heiligen Geistes dreimal in das Wasser. Die Gläubigen dürfen von dem geweihten Wasser mit nach Hause nehmen. Früher schützten kleine Weihwasserbecken jedes Zimmer im Haus, welche mit dem Osterwasser aufgefüllt wurden.

Ostern, das zeitlich etwa mit dem einstigen heidnischen Fest zu Ehren der altgermanischen Frühlingsgöttin Ostara, zusammenfällt, richtet sich als bewegliches Fest nach dem Mond und fällt auf den ersten Sonntag nach Vollmond nach dem Frühjahrsäquinoktium. An diesem Termin soll alle Kraft von fließenden Quellen, klaren Bächen und Brunnen kulminieren, überliefert die Volksweisheit. „Wasser, vor Sonnenaufgang stromabwärts und stillschweigend am Ostertag geschöpft, verdirbt nicht, heilt Ausschläge und kräftigt das Vieh“. Tatsächlich habe sich im Vergleich von Kristallproben aus einer Quelle im Elsass beim „Osterwasser“ gegenüber anderen Terminen eine wesentlich bessere Wasserqualität gezeigt. Man kann also auch einmal einen Versuch starten, die Kraft von zu Ostern geschöpftem Wasser auf sich wirken zu lassen.

Seherinnen
Einen ganz anderen Gebrauch von Wasser machten in alten Zeiten Weissagerinnen. Waren es einst Nymphen, Musen, Grazien, Wasserjungfrauen oder, wie in der Nibelungensage, Wassernixen, die ihre Visionen mitteilten, so blieb diese Tradition auch später weiterhin in weiblicher – wenn auch menschlicher – Hand. Römische und fränkische Quellen erwähnen etwa eine Reihe überregional bekannter Seherinnen zwischen Rhein und Weser, die in Wassernähe lebten und Orakel stellten. Die Kunst, in Wirbeln und Linien, in Reflexionen und Geräuschen des Wassers zu lesen, dabei die Mondphasen und andere Rhythmen der Natur mit einzubeziehen, sozusagen Impulse aus dem Unbewussten zu fischen und sie in das klare Wasser der Erkenntnis zu bringen, lag der weiblichen Natur, die den Gefühlen und der Intuition mehr Vertrauen schenkt, nahe. Dabei scheint es vielleicht, dass der Mensch die Naturgeister zu jener Zeit für immer aus ihren Reichen verdrängte. Vielmehr sind diese Wesen jedoch im Zuge zunehmender Wissenschaftsgläubigkeit aus dem Bewusstsein der Menschen ausgeschieden. Heutzutage findet eine Renaissance des Glaubens an die seelischen Verkörperungen der Natur statt. Mehr und mehr Menschen erleben und sehen Naturgeister und setzen sich für eine größere Achtung vor diesen Kräften ein.

Klänge des Wassers
Viele Wasserwesen sind bekannt für ihren schönen verführerischen Gesang. Das Rhythmische, das der Natur des Wassers zu Eigen ist, mag ein Grund dafür sein. Wellengang, Tropfenplätschern und Fließen nehmen sich wie das Spiegelbild des Tonreichs an. Rhythmischer Gesang und wogende Melodien stammen dem Glauben von Kelten und Germanen nach aus dem Wasser. Die Macht der Musik wurde lange Zeit als magisch angesehen. Wer als Spielmann schöne Melodien beherrschte, konnte Menschen in seinen Bann schlagen und wurde nicht selten als Magier angesehen. Einigen Sagen und Bräuchen des Mittelalters kann man entnehmen, dass ein geheimer Bund zwischen Musikern und Wassergeistern herrschte. So sollen Spielleute an bestimmten Tagen Opfergaben an Wassergeister gemacht haben. Dem „Kelpie“, einem schottischen Wassergeist, sagte man nach, er lehre die Musikanten das Harfeschlagen und das Geigen. Die Kirche misstraute dem musizierenden Volk, mit dem man dieses mystische Prestige der Wassergeister verband. Zählten die Kelten ihre Barden zu den so genannten Freien, gehörten die Spielleute im christlichen Europa bis ins 18. Jahrhundert zu den unehrlichen Leuten.

Wasser zur Heilung
Neben der bekannten Heilquelle von Lourdes, gibt es auf der ganzen Welt Quellen, zu denen die Menschen auf der Suche nach Heilung pilgern. Wissenschaftliche Untersuchungen ergeben häufig einige unerklärliche Daten. So fließt das Wasser bei mancher Heilquelle rechtsdrehend ab (auf der nördlichen Hemisphäre fließt Wasser sonst linksdrehend ab) oder besitzt bestimmte Mineralien in besonders hohem Anteil. Wasser, die mit einer Temperatur von über 20 Grad Celsius aus dem Erdinneren hervortreten, nennt man Thermalquellen. Besonders die Römer haben mit Badehäusern und Aquädukten dem Wasser ihren hohen Respekt gezollt. Die Badekultur in Thermal- und künstlich beheizten Bädern blieb bis ins hohe Mittelalter bestehen. Das erfrischende Miteinander in öffentlichen Badestuben scheint mit der Zeit jedoch ausufernde Ausmaße angenommen zu haben. So wurden aus den geselligen Bädern, wo Frauen und Männer gleichzeitig Erholung fanden, vielerorts „Herbergen der Leichtigkeit“, in denen ausschweifende Zügellosigkeit herrschte. Pestepidemien und sich rasant verbreitende Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, sowie strenger werdendes kirchliches Einschreiten gegen allgemeine Sittenverderbnis führten zu einer aussterbenden Kultur, die erst in unserer Zeit mit dem Wellness-Boom neue Freunde und Freude findet.

Fortschritt durch Wandel
Wie kein anderes Element verdeutlicht Wasser die Kraft der Flexibilität, des Bindens und Lösens. Vielleicht hat es deshalb solche Heilkraft. Es löst über kurz oder lang alle gewordenen Dinge und wird dadurch doch zum dauerhaftesten Gebilde, sagt C.G. Jung. Im Gegensatz zum abstrakten Geist weiche es jeder Begrenzung spielerisch aus und überwinde traumhaft Zeit wie Raum. Durch Zeit und Raum hat es Mythen und Sagen, Bräuche und Traditionen zum Leben erweckt und bereichert auch heute noch unser aller Leben. Eine reiche und vergnügliche Lektüre zu ausführlicheren Geschichten, Anekdoten und Weisheiten aus Volkskunde und anderweitiger Historie bietet „Heilige Quellen, heilende Brunnen“. Eine Reihe von thematisch bezogenen Ausflugstipps, auch für die Schweiz, will den Leser ermuntern, eigene Erlebnisse mit Wasserkraftorten und sagenumwobenen Plätzen und Monumenten zu wagen. Das geheimnisvollste unserer irdischen Elemente ist schließlich immer eine Entdeckungsreise wert.

BUCH-TIPP
Bauer, Wolfgang
Heilige Quellen, Heilende Brunnen
160 Seiten, € 18,80
ISBN: 978-3-89060-275-2
Neue Erde