Was du siehst, ist nicht das, was es ist!

„Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst.“ Dieser Satz, der aus der Feder des Dichterfürsten Goethe stammt, ist nur eine von vielen Umschreibungen der Forderung, die konditionierte Zweckhaftigkeit des Alltagslebens hinter sich zu lassen. Grundlegende Vorraussetzung hierfür ist – darin sind sich alle Verfasser solcher Zeilen einig – die Abkehr vom Ich-Bewusstsein, die uns glauben machen lässt, dass unser tägliches Tun und Sein einem höheren Ziel dient oder einer besonderen Absicht entspricht. Genau das Gegenteil ist der Fall, wenn man den Mut hat, sich dieser tief greifenden Erkenntnis bedingungslos zu stellen.

Ein kalter Wintertag während der Wirren des 30-jährigen Krieges in Deutschland: Ein junger französischer Soldat, der in der Gegend des oberschwäbischen Ulms seinen Dienst leistet, friert erbärmlich und sucht sich den wohl besten Platz, den man als frierender Mensch im 17. Jahrhundert finden kann – einen warmen Kamin. An jenem nun findet der Soldat die lang ersehnte Ruhe vor dem unbarmherzigen Gemetzel des Krieges sowie Schutz vor den lebensfeindlichen Temperaturen draußen vor der Tür. Er fällt in einen tiefen Schlaf. Als er drei Traumserien später erwacht, hat er die Begründung der neuzeitlichen Philosophie des abendländischen Denkens parat. Sein Name: René Descartes. Seine Revolution: die mathematische Entzauberung des Lebens. Sein Einfluss: weltverändernd. Und sein erträumtes Credo: Ich denke, also bin ich.

Die Bedeutung der Institutionalisierung des Dualismus und der damit verbundenen Wirklichkeitsvorstellung eines zentralen Subjekts und eines von ihm getrennten Objektes nehmen in der Geschichte der menschlichen Kultur fortan eine herausragende Stellung ein. Charismatische Individuen können kraft ihres einzigartigen Verstandes das Selbst und die Welt aufteilen, zerstückeln, erklären und vor allem eins: beherrschen. Und eine nicht enden wollende Erfolgsgeschichte bahnt sich den Weg in die Moderne, in der Raketen auf den Mond fliegen, Kaffeeautomaten sich per Zeituhr einschalten und alle Menschen aufgrund ihrer Denkherrschaft glücklich und zufrieden sind.

Alle Menschen glücklich und zufrieden? Nein, denn die Crux jener lebensbefremdlichen Prämissen ist längst offensichtlich – und doch fehlt den meisten von uns noch der Schlüssel, um die künstliche Spaltung wieder in eine echte Ganzheit umzuwandeln. Die Suche nach der Wahrheit, der Erleuchtung oder dem höheren Ziel im Leben schien daher die lebensbejahende Alternative zu sein, um die sich all die entwurzelten Seelen bemühen sollten. Doch vergebens, wie Werner Ablass in seinem beherzten Buch „Abschied vom Ich“ deutlich macht. Das stetige Glück des Lebens und das Streben nach ewiger Zufriedenheit sind unmöglich und negieren den tatsächlichen Kreislauf des Daseins.

Zum Glück gehört Leid, zur Freude die Trauer – der Dualismus muss, wenn er wirklich überwunden werden will, in seiner Gänze akzeptiert werden. Veränderungsstrategien, die Glücksbringer dagegen auf ihren Seminaren versprechen, führen also letztlich nur noch tiefer in die Misere. Für Ablass sind solche Methoden und die aus ihnen folgenden Resultate nichts weiter als neuerliche „Überschreibungen“ unserer aus irrealen Informationen aufgebauten Wirklichkeit. Formeln wie „Was muss ich wieder leiden!“, „Wo kommt nur dieser furchtbare Schmerz her ?“ oder „Das habe ich mir alles selbst zuzuschreiben!“ intensivieren lediglich den Schmerz und stellen somit das tatsächliche Problem dar.

Die Situation selbst IST einfach, so schwer sich das in manch einer Gelegenheit auch anhören mag. Tiere, unsere Lehrmeister natürlichen Seins, machen es den Menschen doch vor: Sie spüren den Schmerz, lecken ihre Wunden, aber leiden und beklagen sich nicht. Sie verspüren Hunger und essen, haben Lust und sind sexuell aktiv. Dazu brauchen sie keine Literatur über die besten Stellungen und auch keine Kochbücher für die besten Rezepte. Ablass selbst deckt in seinem Werk schonungslos seine eigene Suche nach den besten Ideen, den größten Führern und den wirksamsten Glaubenssätzen auf. Für ihn sind diese angeblich so entscheidenden Glaubenssätze mittlerweile nicht mehr relevant. Vor allen Dingen, weil dahinter die Vorstellung steht, man habe sein Leben selbst in der Hand, könne den Einfluss des Schicksals (oder wie immer man es nennen will) beeinflussen. Dies, dessen ist sich der Autor auch dank der Erkenntnisse der modernen Neurobiologie sicher, ist ganz und gar unmöglich. Das Leben hat keinen Sinn, keinen höheren Zweck und ist determiniert und vorherbestimmt. Dies aber ist kein Glaube, sondern nur die logische Folgerung aus dem Faktum, dass der freie Wille Illusion ist.

Das bedeutet allerdings nicht, dass wir gar nichts mehr tun sollen und uns der Trägheit hingeben. Gerade mit jener selbstverantwortlichen Sichtweise ist es möglich, jede noch so unbedeutende Handlung voll und ganz auszuführen, ohne sich aber mit ihr zu identifizieren. Das Rätsel des Lebens ist unlösbar, warum soll ich dann nicht versuchen, das Beste daraus zu machen? Dieses Optimum ist immer vorhanden und trägt den Namen: LIEBE. Alle Werte des Lebens werden daraus gespeist, egal ob es sich dabei um die partnerschaftliche oder berufliche Erfüllung handelt, den Zahnschmerz oder die Trennung von einem geliebten Wesen. Nur die Liebe existiert und der Mensch, der dahinter steht, egal ob er gerade leidet oder sich freut, ist unwirklich. Wer den Blick nicht von ihr ablässt, erkennt, dass die Essenz der Liebe immer der Kern der Wirklichkeit ist. Die traurigen oder depressiven Momente, die wir nicht wahrhaben wollen und die wir nicht sein wollen, werden nur erst möglich, wenn es ein empfundenes Ich gibt, das jene Gefühle auf sich selbst projiziert. Der Ärger oder die miese Stimmung sind also gar nicht das Problem.

„Das Ego in Gestalt der Ich-Vorstellung ist die Wurzel des Baumes aller Wahnvorstellungen: Wird sie vernichtet, ist aller Wahn gefällt.“ Ramana Maharshi

Jeder kennt die zahlreichen Situationen, in denen wir uns für etwas entscheiden müssen, in denen wir abwägen und bestimmte Positionen des Pro und Kontra entwickeln. Das dabei entstehende Stimmengewirr und Durcheinander ist nur so lange störend, so lange wir glauben, dass jemand da ist, der sich richtig oder falsch entscheiden könnte. Wer sind wir, fragt Ablass mit durchdringender Kraft, dass wir meinen, wir wären wichtig? Wichtig ist allein, den Weg des Herzens zu gehen, die Illusion des Ichs zu enttarnen und in jedem Moment voll und ganz zu SEIN.

Das Lebensspiel ist so angelegt, dass Probleme immer und automatisch der bestmöglichen Lösung zustreben. Sich ständig darüber Gedanken zu machen, wie die Lösung aussehen oder auf welche Weise sie sich ereignen könnte, verstärkt das Problem und die Ichfixierung nur. Die konsequente Umsetzung seiner Theorie verwirklicht Ablass in jeder Situation: „Wenn mir jemand sagt, dass er mich liebt oder hasst, ist mir immer bewusst, dass er nur mit seiner Vorstellung, die er sich von mir gemacht hat, kommuniziert.“ Das Verlangen nach guten Gefühlen entsteht letztlich immer nur dann, wenn wir nicht sehen können, dass das, was gerade ist, da sein WILL.

Dementsprechend funktionieren wir jeden Moment perfekt; es entsteht aber keine Notwendigkeit, dies zu denken oder zu beabsichtigen, es passiert von selbst. Ganz einfach deshalb, weil der Dualismus, das Empfinden der Gegensatzpaare, wie gut und schlecht, aufgehört hat zu existieren. Die Welt ist ein Spiegel für das Nichtsein und gerade deshalb kann sie alles sein. Das Ich braucht für alles eine Bedeutung, einen Sinn und einen Zweck, ein Ziel, gekoppelt an den Erfolg. Das ichlose Wesen hingegen, und damit wären wir wieder beim Lehrmeister Tier angelangt, funktioniert einfach gemäß der jeweiligen Anforderung oder Herausforderung.

Aber Vorsicht! Wer versucht, und das kann beim Lesen eines Zeitschriftenartikels recht schnell passieren, das Konzept der Ichlosigkeit gedanklich umzusetzen, erreicht häufig das Gegenteil. Dahinter steckt unsere Vorstellung, dass solcherart Umstrukturierung mit einer Verbesserung oder Erweiterung der Lebensqualität einhergehen muss. Anstatt dass das Leben einfach IST, soll es frei von Problemen, wunderbar oder erfüllend sein. Doch alles, was über die Feststellung, dass das Leben einfach IST, hinausgeht, macht es ärmer und nicht reicher, weil es uns von unseren Erwartungen abhängig macht. Die Probleme oder Wünsche können zwar nicht aus der Welt geschafft werden, aber wenn niemand mehr da, der sie als „seine“ Probleme oder Wünsche bezeichnet, SIND sie einfach.

Ablass‘ Absicht ist also nicht, uns etwas zu schenken oder uns bei der Weiterentwicklung zu helfen. Er hat das Gegenteil im Sinn; er will uns etwas wegnehmen, nämlich das Brett vor dem Kopf oder, wie er es formuliert, die „Desinformation“, die für jene Illusion des falschen Ichs verantwortlich ist. Fehlt jene, haben wir oft den Eindruck, es mit einem besonders weisen oder erleuchteten Menschen zu tun zu haben. Seine Gelassenheit, seine Stille und seine Liebe, die von ihm ausgehen und die wir spüren können, sind aber nichts Besonderes. Das ist völlig normal, so Ablass.

All die anderen, die mit der Ichhaftigkeit und dem scheinbaren Dualismus des Daseins konditioniert sind, sind das Außergewöhnliche und allzu Befremdliche in der Welt. Und folgende Fragen sollten diese Behauptung eindrucksvoll stärken können: Wie ist es möglich, dass ein Mensch in Angst und Schrecken verfällt, nur weil er seinen Autoschlüssel verloren hat? Wie kommt es, das jemand so wütend auf einen Langsamfahrer werden kann, dass er im Geiste fähig ist, ihn von der Straße in den Abgrund zu drängen? Soll das die Normalität des Lebens sein? Das tatsächlich normale Verhalten unterscheidet sich lediglich durch die Deaktivierung folgenden Schlüsselsatzes: „Es ist jetzt nicht so, wie es sein sollte“. Die einzige Methode, die Ablass dabei wirklich empfehlen kann, ist die, dass wir uns, egal welcher negative Gedanke auch auftaucht, dafür lieben, dass er auftaucht. So lange, bis er keine Kraft mehr über uns hat.

Sind wir also in der Lage, die Identifikation mit unseren Gedanken als die alles entscheidende Ursache des Unglücklichseins zu erkennen? Dies klar zu sehen, ist das, was Werner Ablass Erleuchtung nennt. Und doch ist es nichts anderes, als Müll zu sortieren oder auf dem Jahrmarkt Zuckerwatte zu essen. Es ist das ewige Spiel, von niemandem, der spielt.

BUCH-TIPP
Ablass, Werner
Abschied vom Ich
267 Seiten, € 17,80
ISBN: 978-3-930243-49-5
Omega-Verlag