Gendün Chöpel

genduen-choepel01

Mönch, Tantra-Lehrer, Gelehrter und Sozialreformer – kaum eine tibetische Persönlichkeit war so vielfältig wie Gendün Chöpel. Jetzt wird der Mönch als moderne Identifikationsfigur wiederentdeckt.

„Ich bin wie eine Vase aus Lapislazuli, die man gegen einen Stein geworfen hat“, beklagte der Tibeter Gendün Chöpel. Geboren 1905, gestorben 1951 kurz nach dem Einmarsch der Chinesen in Lhasa – ein Mönch aus dem alten Tibet. Seiner eigenen Gesellschaft, die im Westen zum Mythos verklärt wurde und teilweise noch wird, stand er skeptisch gegenüber. Tibet, für viele das Modell einer gewaltfreien, idealen Gesellschaft, voll von Magie und Spiritualität, hielt er für dringend reformbedürftig. Kaum eine Person hat in den letzten einhundert Jahren unter den Tibetern so viele unterschiedliche Emotionen ausgelöst wie diese: Er tritt auf als genialer Gelehrter, wortgewandter Schreiber und Übersetzer, er ist Künstler und Polemiker, er wird erst Mönch, dann Laie. Er passt in keine Schublade.

Nachdem viele seiner Schriften lange Zeit unzugänglich waren, werden sie seit einigen Jahren gedruckt und übersetzt. Heute gehören sie bei den Tibetern zu den beliebtesten Büchern überhaupt – einer der Gründe dafür ist: Sie zeigen, wie eine erstarrte Gesellschaft sich dem Neuen öffnen und wandeln kann, ohne ihre Traditionen und ihren Glauben zu verlieren. Während Chöpel damals gegen die konservative tibetische Feudalgesellschaft anschrieb, bekommen seine Werke im heutigen Tibet eine ganz neue, aktuelle Bedeutung. In den letzten Jahren wurde Chöpel sowohl im chinesisch besetzten Tibet als auch im indischen Exil zu einer modernen Identifikationsfigur junger Tibeter, da er sich selbst vom vorherrschenden engen Denken befreien konnte. Während die Elterngeneration Tibet verloren hat, suchen die Jüngeren nach neuen Idolen, die einen kritischen Blick auf die eigene Gesellschaft erlauben.

Mönch und Gelehrter
Gendün Chöpel wollte als tibetischer Mönch und Gelehrter in der Umbruchszeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das alte Tibet reformieren. Heute wird er als bedeutender Universalgelehrter Tibets angesehen, der jedoch an den konservativen Strukturen zerbrach und seinem Land nicht helfen konnte, aus eigener Kraft den Weg in das moderne 20. Jahrhundert zu gehen. Tibet war damals nicht das unzugängliche Shangri-La, wie oft behauptet wird, sondern ein zerrissenes Land an der Schwelle des Wandels. Die Versuche, die veralteten Sozialstrukturen aufzubrechen und einen eigenen Weg ins 20. Jahrhundert zu finden, scheitern am Widerstand des Adels und der Klöster.

Bereits in jungen Jahren war Chöpel als Inkarnation eines Nyingmapa-Lamas („Rotmützen“) erkannt worden. Er kam als Mönchsnovize zunächst in ein Kloster seiner Heimatumgebung im Rebkong in Amdo, dem späteren Geburtsort des heutigen Dalai Lama. Chöpel wurde schon bald in die Gelugpa-Klosteruniversität Labrang geschickt, wo er sich als glänzender Debattierer einen Namen machte. Mit seiner hohen Intelligenz und Findigkeit verblüfft er seine Lehrer – in budhistischer Gelehrsamkeit, aber auch wenn er beispielsweise aus alten Uhren mechanische Boote bastelt und diese über den Klostersee fahren lässt. Immer wieder wendet er sich aber schon hier gegen den in seinen Machtstrukturen gefangenen konservativen Klerus. Nach wenigen Jahren geht er nach Lhasa ins berühmte Kloster Drepung, gibt jedoch 1934 das Klosterleben ganz auf und lebt zunächst als Laie und Portraitmaler in Lhasa.

Mit dem indischen Gelehrten Rahul Sankrityaya unternimmt er Forschungsreisen zu verschiedenen tibetischen Klöstern, um alte, in Indien verloren gegangene buddhistische Texte zu suchen. Erstmals wird ihm dabei angesichts alter Texte und Zeichnungen die wirkliche politische Vergangenheit Tibets, frei von religiösen Legenden, klar, die keineswegs immer nur friedlich war. Viele Jahre später wird er die erste politische Geschichte Tibets verfassen.

Reiseschriftsteller und Tantra-Lehrer
Gemeinsam mit seinem indischen Gelehrtenfreund macht er sich auf den Weg in dessen Heimat. Zunächst unternimmt er eine Art Pilgerreise zu den heiligen Stätten des Buddhismus in Indien, Nepal und Sri Lanka. Er lernt Englisch, Sanskrit und Pali, befasst sich mit westlichen Philosophien und gesellschaftlichen Modellen, knüpft Kontakte zu Intellektuellen und Künstlern und wird Journalist für die einzige tibetische Zeitung. Aus seinen Notizen und Zeichnungen entsteht im Laufe der Jahre der erste „Reiseführer für tibetische Pilger“.

Chöpel taucht aber auch ein in die Welt der Sinne – „raucht, säuft und hurt“, wie sein tibetischer Begleiter in dem Film „Angry Monk“ lachend über dessen Leben berichtet. In Indien übersetzt Chöpel 1939 das Kamasutra ins Tibetische. In dessen Vorwort betont er: „Was mich betrifft, ich kenne keine Scham und ich liebe die Frauen. Mann und Frau – sie beide sehnen sich nach körperlicher Vereinigung. Keine Religion und kein Gesetz der Moral könnte das verhindern. Unterdrückt man die natürlichen Leidenschaften des Menschen, wachsen pervertierte im Verborgenen.“ Sein Buch „Die tibetische Kunst der Liebe“ wird zum bekanntesten seiner Werke in Tibet. In seinem berühmten „Traktat über die Liebe“ (in Deutsch erschienen unter dem Titel: „Die tibetische Liebeskunst. Eros, Ekstase und spirituelle Heilung“) propagiert er die Vereinbarkeit von sexueller Lust und Spiritualität und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Lebendiger und weitaus zugänglicher als die erotischen Lehrbücher Indiens, gibt er detaillierte Anweisungen zur Ausübung der Liebeskünste und zeigt auf, wie die sexuelle Lust dazu genutzt werden kann, um spirituelle Erkenntnis und Heilung zu gewinnen. Er wird damit zu einem der ersten modernen Interpreten des Höchsten Yoga Tantras.

Sozialer Reformer
Gendün Chöpel veröffentlicht zahlreiche polemische Artikel in der Zeitschrift „Melong“ und fordert tief greifende Reformen in der tibetischen Politik und Gesellschaft. Er wird einer der größten Kritiker des alten Tibet mit seinen verknöcherten Herrschaftsstrukturen und, wie er es sieht, seiner zu bloßen Ritualen verkommenen Religion. Er spricht sogar von der „Korruption des tibetischen Buddhismus“.

Chöpel unterstützt eine Gruppe von intellektuellen Exil-Tibetern, die sich für einen sozialen Wandel in Tibet einsetzen. Die in Indien herrschenden Briten verleumden ihn deshalb bei der tibetischen Regierung als Kommunisten. Daraufhin wird Chöpel Ende der vierziger Jahre, als er endlich in seine Heimat zurückkehrt, verhaftet und ausgepeitscht. Drei Jahre lang sitzt er im Gefängnis und wird dann mit ruinierter Gesundheit entlassen, Körper und Geist sind – wie in seinem eingangs erwähnten Vergleich mit der Lapislazuli-Vase – gebrochen. Er verfällt völlig dem Alkohol und stirbt zwei Jahre später 1951.

Buch und Film
Das bewegte Leben Chöpels kann man jetzt per Buch und Film nacherleben. Die cineastische Zeitreise „Angry Monk“ nimmt die Lebensgeschichte dieses unorthodoxen Mönchs zum Anlass, um ein Bild von Tibet aufzudecken, das gängigen Klischees zuwiderläuft. Zahlreiche seltene historische Aufnahmen werden hier erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Elegant und überraschend verwebt der Film Damals und Heute: Archivbilder von prächtigen Klöstern wechseln sich ab mit Szenen von Discos und Bildern von mehrspurigen Schnellstrassen in Lhasa, wo Pilger sich niederwerfen, um ihr Heiligtum zu umrunden.

„Angry Monk“ gibt einen faszinierenden Einblick in ein Land, dessen schicksalhafte Vergangenheit sich im heutigen Alltag vielfältig und widersprüchlich spiegelt.

Elke Hessel erzählt in ihrem Buch „Die Welt hat mich trunken gemacht“ Chöpels Lebensgeschichte aus einem subjektiven und manchmal emotionalen Blickwinkel heraus. Sie bettet die persönliche Geschichte in den historischen Kontext ein, so dass das Buch auch ein aufschlussreiches Zeugnis der tibetischen Geschichte dieses Jahrhunderts ist.