Buddhismus und Quantenphysik

Wenn es um das Verhältnis von östlicher Mystik zu westlicher Wissenschaft geht, ist Christian Thomas Kohls außergewöhnliches Buch „Buddhismus und Quantenphysik“ nicht nur ein Standardwerk, sondern ein anspruchsvoller und gründlicher Beitrag zum Verständnis des Buddhismus und der Philosophie Nagarjunas. Der Diplom-Politologe Christian Thomas Kohl, Jahrgang 1945, gehört seit 20 Jahren zur Kagyü- und Sakya-Tradition des tibetischen Buddhismus und hat zahlreiche Vorträge zum Thema gehalten, unter anderem an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und im Tibet Kailash Haus in Freiburg im Breisgau. Wir sind froh, dass wir ihn für dieses Interview gewinnen konnten.

newsage: Ich habe zwar selbst Philosophie studiert, aber mir war Nagarjuna vor der Lektüre Ihres Buches unbekannt. Wer war Nagarjuna und was hat er gelehrt?
buddhismus-und-quantenphysik01C.T. Kohl: Nagarjuna war der bedeutendste Philosoph des Buddhismus. Er lebte ungefähr um 250 nach Christus in Indien. Bis heute hat er mit seiner Lehre des mittleren Weges fast alle buddhistischen Schulen geprägt. Besonders Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, spricht immer wieder von Nagarjuna. Aber nicht nur das. Ganz Asien ist von der Sichtweise Nagarjunas geprägt. Es ist eine Sichtweise, die das Schwarz-Weiß-Denken überwunden hat und die Abhängigkeit der Dinge von anderen Dingen betont, das Zusammenspiel der Dinge.

newsage: Können Sie Nagarjunas eigene Position näher erläutern?
C.T. Kohl: Nagarjunas Philosophie besteht aus zwei Aspekten: Zum einen betont sie die Abhängigkeit der Dinge, die Substanzlosigkeit der Dinge, zum anderen weist sie dadurch vier extreme Wirklichkeitsbegriffe zurück, die die Abhängigkeit nicht sehen wollen: 1. Die Substanzmetaphysik, nach der den Dingen ein unabhängiger Kern zugrunde liegen soll, den wir manchmal Gott, manchmal Sein oder aber letzte Wirklichkeit oder aber auch Naturgesetz nennen. 2. Der Subjektivismus, der die Welt, in der wir leben, auf Denkweisen oder den Geist reduzieren will. 3. Der Holismus, der nur noch das Ganze sieht und die Teile vernachlässigt. 4. Der Instrumentalismus, für den es überhaupt keine Wirklichkeit mehr gibt, sondern nur noch Konzepte.

newsage: Nagarjuna diskutiert den zentralen Begriff der „Abhängigkeit“ anhand sehr anschaulicher Beispiele. Können Sie uns da ein paar nennen?
C.T. Kohl: In seinem Hauptwerk „Mulamadhyamaka- Karika“, das den mittleren Weg begründete, spricht Nagarjuna von einem Geher und einer begangenen Strecke, von Feuer und Brennstoff, von einem Seher und dem gesehenen Objekt, von einer Tat und einem Täter. Beide Aspekte gehören zusammen, sie fallen nicht auseinander, sie sind nicht zu trennen, Subjekt und Objekt haben keine Unabhängigkeit, aber sie sind auch nicht eins, sie sind kein Ganzes. Sie sind abhängig voneinander.

newsage: Gleichzeitig kritisiert Nagarjuna andere, auch heute weit verbreitete Wirklichkeitsvorstellungen.
C.T. Kohl: Nagarjuna setzt sich mit vier extremen metaphysischen Positionen auseinander, die ich auf die Positionen des Substanzdenkens, des Subjektivismus, des Holismus und des Instrumentalismus beziehe. In Nagarjunas Diskussionen werden diese Positionen nur in ihrem Ansatz dargestellt. Aber sie sind ganz klar zu erkennen. Es sind unsere Positionen von der Wirklichkeit. Mit diesen Konzepten können wir die grundlegende Wirklichkeit nicht erkennen.

newsage: Nagarjuna stellt diese vier extremen Wirklichkeitsbegriffe in einem Schema dar, das in Sanskrit „catuskoti“, in Griechisch „Tetralemma“ genannt wird. Können Sie uns dieses Schema kurz erklären?
C.T. Kohl: Das Tetralemma (catuskoti) ist ein Argumentationsschema aus der klassischen indischen Logik, mit dem vier gegensätzliche Positionen dargestellt werden können. Nagarjuna verwendet es oft, um vier gegensätzliche Positionen zurückzuweisen.

buddhismus-und-quantenphysik02
1 Substanzdenken
2 Subjektivismus
3 Holismus („ganzheitliches Denken“)
4 Instrumentalismus
5 Abhängigkeit

Ein Beispiel aus einer Hymne Nagarjunas an den Buddha: „Dialektiker behaupten, dass das Leid aus sich selbst heraus, durch etwas anderes, durch beides oder aber ohne eine Ursache substanziell entstanden ist. Du aber hast erklärt, dass es abhängig entstanden ist.“ In einer kurzen Form ist in diesem Satz die ganze Philosophie Nagarjunas enthalten: die Zurückweisung von vier extremen metaphysischen Positionen, die sich nicht mit der Abhängigkeit der Dinge vereinbaren lassen. Da das Leid abhängig entstanden ist, kann es 1. nicht unabhängig oder objektiv sein, es kann 2. nicht durch etwas anderes, durch das Subjekt eine unabhängige Existenz erhalten, aber auch 3. beides zusammen ist nicht der Fall und 4. keines von beidem trifft auch nicht zu. Was hier vom Leid ausgesagt wird, lässt sich von allen Dingen sagen: Die Dinge haben keine Substanz, sie sind auch nicht nur subjektiv, sie sind kein abstraktes Ganzes (Holismus) und man kann ihnen auch nicht jegliche Existenz absprechen, wie es instrumentalistische Denkweisen tun.

newsage: Nagarjunas Philosophie wird ja häufig ganz anders aufgefasst. Der „Standardinterpretation“ zufolge vertritt Nagarjuna gar keine eigene Position, weil er alle Theorien und Konzepte als irreferentiell zurückweist und die Dinge der Welt, in der wir leben, für unwirklich und nichtexistent hält. Das ist der Punkt, an dem Sie widersprechen und auf die Quantenphysik verweisen, richtig?
C.T. Kohl: Ja, diese Interpretation ist weit verbreitet. Das macht die Faszination der vierten Position aus, die uns weismachen will, es gehe nur um Konzepte oder nur um Informationen, nur um Ideen, so als gäbe es hinter diesen Konzepten keine physischen Dinge. Deswegen habe ich auf die Quantenphysik verwiesen. Auch die Quantenphysik beschäftigt sich zunächst nur mit mathematischen Formeln und physikalischen Denkformen und gemessenen Daten, um davon Prognosen abzuleiten. Auch die Schlüsselbegriffe der Quantenphysik sind zunächst nur Konzepte:
Komplementarität, Wechselwirkungen und Verschränkungen. Aber hinter diesen Konzepten gibt es Objekte, Quantenobjekte, und diese befinden sich, ganz ähnlich wie Feuer und Brennstoff, in einem Zusammenspiel ihrer Teile, sie sind abhängig voneinander.

newsage: Interessanterweise erscheint Ihr Buch bei Amazon in Verbindung mit einem Werk des Dalai Lama, „Die Welt in einem einzigen Atom“. Wie steht Seine Heiligkeit zu Nagarjuna?
C.T. Kohl: In fast all seinen Belehrungen, Vorträgen und Büchern spricht Seine Heiligkeit der Dalai Lama von Nagarjuna und von der Substanzlosigkeit und der grundlegenden Abhängigkeit der Dinge. Wer die Substanzlosigkeit der Dinge sieht, ist befreit.

Weitere Informationen unter:
http://ctkohl.googlepages.com

BUCH-TIPP
Christian Thomas Kohl
Buddhismus und Quantenphysik
302 Seiten, € 12,90
ISBN: 978-3-89385-463-9
Windpferd Verlag
www.windpferd.de