Das entflammte Herz

Daniel Odier gilt als der beste Kenner der tantrischen Spiritualität im Westen. Mit seinem neuen Buch „Das entflammte Herz“ führt er noch tiefer in die innerste Essenz des tantrischen Weges ein und offenbart Geheimnisse der östlichen Weisheitslehre, die viele Jahrhunderte lang nur den Eingeweihten vorbehalten waren. Die einzigartige Kunst Odiers liegt darin, alles Zeit- und Kulturgeschichtliche zur Seite zu räumen und den wesentlichen, innersten Kern, das Herz einer Tradition freizulegen – und wir freuen uns, Ihnen mit dem folgenden Auszug einen Eindruck von der Tiefe von Odiers neuem Werk vermitteln zu können. Dem tantrischen Weg des „entflammten Herzens“ zu folgen ist keine oberflächliche Angelegenheit. Dieser Pfad führt in die Konfrontation mit allen Halbwahrheiten und Abhängigkeiten; doch wer ihn mutig beschreitet, wird laut Odier eine wundervolle Freiheit und wahre Herzensreinheit finden.

Meinen ersten Begegnungen mit großen spirituellen Meistern – chinesischen, tibetischen und kaschmirischen – verdanke ich die Einsicht einer tiefen Übereinstimmung zwischen dem Chan, dem Tantrismus, dem Dzogchen, dem tibetischen Mahamudra sowie dem ursprünglichen Mahamudra – das der kaschmirische Shivaismus ist.

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„Das Erschauen – als ureigenster Ort der Schöpfung und der Rückkehr – ist grenzenlos, denn seine Natur ist frei von jeder Form.“

1967, ich war zweiundzwanzig Jahre alt, kam ich – ganz frisch von meinen Studien – in einem Anstoß erregenden und wundersamen Indien an. Das ließ mich nach und nach alle die Gedanken aufgeben, die ich mir bis dahin über Spiritualität gemacht hatte. Ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben, das mir Arnaud Desjardins aufgrund meiner Begeisterung für seine Filme „Les Mystères des Tibétains“ gerne ausgestellt hatte, machte ich mich auf den Weg nach Delhi, wo ich den Direktor des Tibetischen Museums traf. Dieser wiederum schickte mich nach Kalimpong, um dort das Oberhaupt der Nyingmapa zu treffen – Dudjom Rinpoche. Der Zufall (dieser von „Spiritualisten“ so verwünschte Begriff) wollte es, dass ich vor einem kleinen Haus Halt machte, in dem ein gelehrter Chinese namens Cheng Ming Chien lebte, Autor von etwa hundert im Westen nicht veröffentlichten Werken. Dieser kleine bärtige Mann, gekleidet in ein abgetragenes, fleckiges Gewand, verströmte eine überwältigende Energie und überschwängliche Freude. Er reichte mir Tee angesichts einer Yogini, die dasaß mit weit in den Raum hinein geöffneten Beinen. Diese betrachtend, verbrachte er Tag und Nacht in ständiger Ekstase. Er machte mir etwa zwanzig seiner Werke zum Geschenk. Diese bewahre ich immer noch auf. Darunter befand sich auch ein Kommentar des Vijnanabhairava- Tantra, der – wie es schien – auf Chinesisch war und zur Originaltradition des Mahamudra der Siddhas aus der Tradition des kaschmirischen Shivaismus gehörte.

Diese erste Begegnung trug im Kern alle zukünftigen Entwicklungen meines Weges in sich. Chien Ming Chen war ein Eingeweihter des Chan, aber auch des Dzogchen und des Mahamudra. Von allen Werken, die er mir schenkte und die ich wie ein Himalaya-Maultier transportierte, übte das Vijnanabhairava- Tantra auf mich sofort eine absolute Faszination aus. Chien Ming Chen lebte seit 1947 in seiner Einsiedelei und hat sie nie verlassen. Wissbegierige Geister, die seine vor Ort gedruckten Veröffentlichungen finanzierten, hatten ihn trotzdem gefunden. Er übte eine immense Faszination aus, auf die Meister des Hinayana-Buddhismus genauso wie auf die des Mahayana und des Vajrayana, sogar auf einige Wissenschaftler und Universitätslehrer. Ich war nur einige Stunden in seiner Gesellschaft, doch diese wurden entscheidend für meine Öffnung den verschiedenen Ausrichtungen gegenüber.

Nachdem er mir die idealen Voraussetzungen für die Einrichtung einer Einsiedelei erklärt hatte, Voraussetzungen, die ich immer noch in Erinnerung habe und die für die Wahl meines Rückzugsortes in der Toskana ausschlaggebend waren, sagte mir Chien Ming Chen ganz bescheiden, dass er mich auf dem Weg nicht begleiten könne, denn seine Bestimmung zum Eremiten sah ihn für die Einzelpraxis vor, und er selbst hatte noch nicht die reifste Frucht geerntet. Er führte mich zu dem großen Meister des Dzogchen und Oberhaupt der Nyingmapa, Dudjom Rinpoche. Er war derselbe, für den mir der Direktor des Tibetischen Museums von Delhi ein Empfehlungsschreiben ausgestellt hatte.

Ich verließ diesen bemerkenswerten Mann mit großem Bedauern, und noch am gleichen Tag kam ich zu einem schönen Haus im indischen Stil, einem auf einen Hügel gebauten Bungalow, wo mich die Frau von Dudjom Rinpoche liebenswürdig empfing. Zu dieser traumhaften Zeit waren die größten Meister noch mit verblüffender Leichtigkeit erreichbar. Erst wenige Menschen aus dem Westen waren auf der Suche nach dem Dharma. Dudjom Rinpoche empfing mich. Er war ein Mann mit offenem, in die Unendlichkeit gerichteten Blick, einem ständigen Lächeln, einer großen Freundlichkeit, von fast weiblicher Sanftheit, verbunden mit zupackender Kraft. Die Haare fielen lang auf ein westliches Hemd unter seinem blauen tibetischen Gewand. Auf alle meine Bitten ging er ein. Naiverweise hatte ich mir in den Kopf gesetzt, ein Buch über tibetische Malerei zu schreiben, mit Unterstützung des großen Verlegers von Kunstwerken, Albert Skira, der mir einige Stunden über das Fotografieren von Bildern erteilen ließ und mich mit der entsprechenden Ausrüstung ausgestattet hatte. Dudjom Rinpoche ließ die Thangkas (gemalte Schriftrollen) aus dem Tempel bringen und sah mir zu, wie ich sie fotografierte. Dann wies er mich humorvoll darauf hin, dass ich, um in ihre Geheimnisse einzudringen, den Weg selber praktizieren müsse.

chatral-rinpoche01Die Unruhen an der ganz nahe gelegenen chinesisch-indischen Grenze bewirkten, dass Ausländer sich nicht mehr als drei Tage in Kalimpong aufhalten durften. Die indischen Behörden waren von einer akuten „Spionitis“ erfasst. Für sie war jeder Ausländer ein potenzieller Spitzel der Chinesen. Angesichts meines Enthusiasmus gab mir Dudjom Rinpoche an jedem der drei Tage die Essenz der Lehren des Dzogchen, und erst dreißig Jahre später habe ich verstanden, wie einfach, weitreichend und direkt seine Unterweisung gewesen ist. In der Folge hatte ich Gelegenheit, ihn mit Kalu Rinpoche zu treffen und ihm meine Dankbarkeit auszusprechen. Als ich ihn verließ, gab er mir ein Empfehlungsschreiben für einen seiner Schüler, auch er ein großer Meister des Dzogchen, der in der Nähe von Darjeeling wohnte – Chatral Rinpoche.

Diese Begegnung sollte ebenso heftig wie beeindruckend sein. An Ort und Stelle angekommen, stieß ich an die Tür einer Art armseligen Behausung, und ich fand Chatral Rinpoche in Versenkung, den Blick absolut unbeweglich und offen, gerade vor sich hin gerichtet. Ich erinnere mich an einen Wärmeofen, eine Thermosflasche auf dem Tisch und an einen Kalender mit einem Gandhi-Bild. Im Angesicht des schweigenden Meisters packte ich den Brief aus, den er gar nicht las. Brutal fragte er mich, was ich wolle. Zitternd trug ich daraufhin meine Bitte vor, so sehr verströmte er eine ebenso wilde wie wunderbare Energie. Mit einem Satz sprang er auf, packte mich am Kragen und zog mich hinter seine armselige Behausung, wo sich sechs Zellen für den Rückzug befanden: Lockere Bretter und ein Blechdach. Er öffnete eine Tür, stieß mich in eine dieser ein Quadratmeter großen Klausen, die mich eher an Latrinen erinnerten als an einen Ort der Kontemplation, und sagte mir: „Bist du bereit, sechs Jahre lang in diese Zelle zu gehen?“ Alsbald kam ich wieder heraus, erschreckt durch die Kälte, den Regen, den Nebel und durch die Enge des Ortes. Er lachte und sagte zu mir: „In diesem Fall kann ich nichts für dich tun. Beginne, Tibetisch zu lernen.“

kalu-damaru01Ich war schon froh bei dem Gedanken, ihm zu entkommen, als er mir, gerade beim Gehen, viel liebenswürdiger zuwarf: „Schade, ich nehme nur sechs Schüler auf einmal. Ein Platz wäre noch frei. Du hättest möglicherweise zur Erleuchtung kommen können, aber steige einige Kilometer Richtung Sonada hinab. Dort befindet sich dein Meister.“

„Ich lief im strömenden Regen und dankte den Göttern, diesem Taifun mit der großen Nase entkommen zu sein. Dabei stellte ich mir vor, dass der Meister, der mich dort erwartete, noch verrückter sein müsste. Ich erlebte die Überraschung meines Lebens, als ich in das Zimmer trat, wo ein großartiger alter Mann mit einem von Liebe überfließenden Blick Bauklötzchen spielte, indem er Schachteln auf dem Kopf einer Katze ins Gleichgewicht brachte, die ihn wie hypnotisiert anblickte. Nach einem kurzen Gespräch sagte mir Kalu Rinpoche sofort, dass ich ihn entweder als meinen Meister oder als meine Mutter betrachten dürfe. Ich wählte die zweite Lösung und entspannte mich völlig in seiner Gegenwart, die eine Liebe verströmte wie ein süßes und nährendes Elixier.

BUCH-TIPP
Daniel Odier
Das entflammte Herz
184 Seiten, € 12,95
ISBN: 978-3-89427-504-4
Aquamarin Verlag