Dalai Lama

Das Lieblingsbuch des Dalai Lama

Die bisherige Lebensgeschichte des 14. Dalai Lama ist ereignisreich und abenteuerlich. Sie spiegelt die geopolitischen Machtverhältnisse und -bestrebungen in Zentralasien wider und hat sich so entwickelt, dass das Oberhaupt der tibetischen Buddhisten fast naturgemäß zu einem unermüdlichen Vermittler von Frieden und globaler Verantwortung geworden ist. Bereits 1989 wurde ihm für seine weltweiten Bemühungen der Friedensnobelpreis verliehen.

Dalei Lama

»Dalai Lama« ist der Titel des höchsten Oberhauptes des tibetischen Buddhismus und bezeichnet einen Meister, den man als Reinkarnation eines früheren Meisters identifiziert hat. Der Titel wurde erstmals 1578 von einem mongolischen Fürsten an seinen spirituellen Lehrer verliehen. Der Dalai Lama wird im tibetischen Buddhismus gleichzeitig auch als »Bodhisattva« verstanden, als erleuchtetes Wesen, das aus Mitgefühl reinkarnierte, anstatt den Kreislauf der Wiedergeburt endgültig zu verlassen.

Tenzin Gyatso, geboren am 6. Juli 1935 in Osttibet, ist der gegenwärtige 14. Dalai Lama und hat sich, ganz seinem Titel entsprechend, bedingungslos dem Mitgefühl für seine Mitmenschen verschrieben. Doch der buddhistische Mönch bekam viel Gegenwind. Bereits kurz nach der Übertragung der weltlichen Herrschaft über Tibet 1950 musste der damals 15-jährige Dalai Lama angesichts der Bedrohung Tibets durch China nach Indien flüchten. Im Sommer kehrte er zurück, um gemäß einem Abkommen mit den Chinesen seine religiösen Funktionen wieder aufzunehmen, seine weltliche Herrschaft über Tibet wurde allerdings nicht anerkannt.

Tibetaufstand

Die darauffolgenden Jahre versuchte Tenzin Gyatso zwischen seinem Volk und dem zunehmend repressiven China zu vermitteln. Doch der Tibetaufstand vom 10. März 1959 gegen die kommunistische Regierung Chinas machte die ohnehin schwierige Diplomatie zunichte. Es wird geschätzt, dass es auf tibetischer Seite während des Aufstands fast 90.000 Tote gab. Das chinesische Militär ging äußerst brutal vor, richtete Mönche und andere Tibeter öffentlich hin und zerstörte die drei Hauptklöster der Hauptstadt Lhasa fast völlig.

Während des Tibetaufstands floh der Dalai Lama nach Dharamsala in Nordindien. Das Nechung-Orakel, das vor der Flucht befragt worden war, sagte: »Der Dalai Lama soll Tibet verlassen.« In Indien, wo er heute immer noch residiert, baute der nun Heimatlose die demokratische Exilregierung Tibets auf. Im März 2011 hat der Dalai Lama das tibetische Exil-Parlament gebeten, ihn von seinen politischen Aufgaben zu entbinden. Er widmet sich seitdem ausschließlich religiösen und friedenspolitischen Aufgaben.

Die unruhige Geschichte Tibets erstreckt sich jedoch noch weiter in die Vergangenheit. Nach weniger folgenreichen Eroberungen Tibets durch die Mongolen stand China schon im ausgehenden Mittelalter vor Tibets Toren. Auch wenn Großbritannien und Russland sich regelmäßig einmischten, setzte sich Chinas Hoheitsanspruch über Tibet immer wieder durch. 1910 marschierte die chinesische Armee schon einmal in Tibet ein, nachdem der 13. Dalai Lama bei einer kaiserlichen Audienz eine Unterwerfungsgeste als Vasall des Kaiserreichs China vollziehen sollte und dies verweigerte.

Internationale Freunde und Helfer waren Tibet jedoch schon immer vergönnt. In Russland gab es seit eh und je eine Gemeinschaft buddhistischer Anhänger, die den Dalai Lama verehrten. Und Großbritannien und Russland leisteten immer wieder Hilfe, wenn die Situation mit China sich erneut zuspitzte. Ein persönlicher Freund des 14. Dalai Lama war der österreichische Bergsteiger Heinrich Harrer. Von 1946 bis 1950 hielt er sich in Lhasa auf und freundete sich 1948 mit dem jungen Dalai Lama an, für den er filmte, fotografierte und den er in der westlichen Form des Rechnens sowie in Englisch und Geografie unterwies. Harrer begleitete ihn auch 1951 auf der Flucht aus Tibet.

Gewaltfreier Kampf

Seit Seine Heiligkeit in jener kalten Märznacht des Jahres 1959 aus Lhasa floh, kämpft er – gewaltfrei – für die Freiheit seines Landes. Als es z. B. 1987 in Lhasa zu Demonstrationen und Unruhen der Tibeter gegen die Besatzer kam, legte der Dalai Lama China einen Fünf-Punkte-Friedensplan vor, in dem er u.a. forderte, dass das gesamte tibetische Gebiet in eine Zone der Gewaltlosigkeit (buddhistisch »Ahimsa«) umgewandelt wird. Weitere folgende Forderungen nach der Einhaltung der Menschenrechte und Friedensangebote an China, in denen er den Besatzern gegenüber große Zugeständnisse machte, blieben allerdings bis heute erfolglos.

Nur wenig konnte Tenzin Gyatso bei seiner damaligen Flucht aus Tibet mitnehmen, aber sein Lieblingsbuch musste mit dabei sein: Je Rinpoche Tsong Khapa Lobsang Dragpas (kurz Tsong Khapa) »Große Abhandlung über die Stufen auf dem Pfad zu Erleuchtung«. In einem eigenen Buch, »Von hier zur Erleuchtung«, gibt der Dalai Lama eine Darstellung der Kernunterweisungen, die Tsong Khapa in seiner »Großen Abhandlung« 1402 bis ins Detail darlegte. Tsong Khapa schrieb das Werk im vierten Jahr nach seiner vollkommenen Erleuchtung in einer Berghöhle, in der er fünf Jahre zurückgezogen gelebt hatte. Danach war es ihm ein Anliegen, aus der Befreiungslehre des Buddha und seiner zahlreichen Nachfolger eine Aufstiegshilfe für den Weg zur Erleuchtung zu erstellen, die Menschen jeder Art und Herkunft eine Unterstützung sein konnte.

Das Verständnis der Leerheit

Dieses Lieblingsbuch des Dalai Lama ist ein in der Geschichte des tibetischen Buddhismus umstrittenes, aber auch sehr einflussreiches Werk. Tenzin Gyatso betont jedoch die einigende Kraft des Buches, auch für die tibetische Weisheitstradition, die viele Splittergruppen aufweist. Seine Interpretation des buddhistischen Klassikers wird besonders aus dem Blickwinkel des sogenannten »abhängigen Entstehens«, einer grundlegenden buddhistischen Sichtweise, betrachtet. In jedem Kapitel kommt er auf dieses Thema zurück. Im Buddhismus gilt, dass alles nur in seiner Verbundenheit mit anderen Dingen existiert und von ihnen abhängig ist. Alles besteht aus ineinandergreifenden Prozessen, die kaum unabhängig voneinander behandelt werden können. In diesem Zusammenhang weist der Dalai Lama z. B. auch auf den großen Wert aller Weltreligionen für die Entstehungsgeschichte des menschlichen Bewusstseins hin.

Die vier edlen Wahrheiten
  1. Das Leben im Daseinskreislauf ist letztlich leidvoll.
  2. Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und Verblendung.
  3. Erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden.
  4. Zum Erlöschen des Leidens führt der Edle Achtfache Pfad.

Immer zeigt er, wie sich buddhistische Grundbegriffe, etwa die »drei Kostbarkeiten« und die »vier edlen Wahrheiten«, offenbaren, wenn wirklich verstanden wird, dass alle Dinge in Abhängigkeit von anderen entstehen und nicht von eigenständiger Existenz sind. Er beleuchtet, wie Liebe, Mitgefühl und Güte dadurch zustande kommen, dass wir unsere Verbundenheit mit anderen und unsere Beziehungen zu ihnen als ein Geflecht von wechselseitigen Bedingungen erfahren. Schließlich zieht er eine Parallele zur Quantenphysik und erinnert daran, dass auch hier die Realität als solche nicht objektiv konstatiert werden kann, weil sie nur in der Wechselbeziehung zwischen dem erfahrenden Bewusstsein und seinen Gegenständen existiert.
Die Werte des Mitfühlens und die Erkenntnis der Verbundenheit münden schließlich in globaler Verantwortung. Während die Völker und Nationen früher noch unabhängiger voneinander lebten, lassen die heutige globale Vernetzung und stärker besiedelte Erde keinen Zweifel daran, dass wir uns um unseren Nächsten und die Erde kümmern müssen, wenn wir auf lange Sicht ein lebenswertes Leben führen wollen. Und auch für das persönliche Leben bedeutet der Grundsatz der gegenseitigen Verbundenheit Lebensqualität und Wohlbefinden. Ein auf das eigene Ich ausgerichtetes Leben hingegen führt aus buddhistischer Sicht nur zum Leiden.

Dabei kommt die buddhistische Deutung des Begriffs »Leerheit« zum Tragen. Leerheit stellt im Buddhismus die höchste Realität dar. Die fünf »körperlichen und geistigen Anhäufungen«, die den Geist des alltäglichen Menschen so beschäftigen, besitzen demnach kein eigenes, ihnen innewohnendes Sein; sie sind leer. »Nichts ist so wichtig wie das Verständnis der Leerheit«, schreibt der Dalai Lama. Wer das Festhalten an der Vorstellung eines dauerhaften Ichs und einer dauerhaften Realität einmal als Irrtum erkannt hat, wird begreifen, dass zumindest die Möglichkeit der Beendigung unserer Leiden besteht. Nur daraus kann wiederum der Erleuchtungsgeist, »Bodhichitta«, entstehen. Die Lehre der Leerheit zielt letztendlich auf Befreiung, »Moksha« oder »Nirwana«. Freiheit ist der Geisteszustand eines Menschen, der jeden letzten Rest von Festhalten an einem in den Dingen selbst liegenden wahren Sein überwunden und der Begriffe wie »wahr« oder »unwahr« als Illusion erkannt hat.

Die drei Kostbarkeiten
  • Buddha, der »Führer«
  • Dharma, der »Pfad«/Kodex
  • Sangha, »Reisegefährten«/eine Gemeinschaft Gleichgesinnter

Dalai Lama als Vorbild

Auch die Verbundenheit und der Einklang der Religionen ist Tenzin Gyatso ein zentrales Anliegen. An vielen muslimischen und anderen religiösen Zeremonien hat er bereits teilgenommen, um das Verständnis auf beiden Seiten zu verbessern und Freundschaften zu fördern. Und natürlich ist der Frieden zwischen Tibet und China sowie die Aussöhnung mit allen Völkern ein weiteres Anliegen des derzeitigen Dalai Lama. Sein tägliches Leben widmet der nunmehr 78-Jährige diesen Aufgaben, die ihn durch alle Länder der Welt führen. Sein Beitrag zu einer besseren Welt ist unermüdlich und konsequent. Für ein privates Leben ist dabei kaum Platz. Man könnte sagen, dass Tenzin Gyatso sich ganz in den Dienst der Menschheit und ihres friedlichen Miteinanders gestellt hat. So praktiziert er tagtäglich – in perfektem buddhistischen Sinn – Mitgefühl und misst seinem »Ich« wohl die wenigste Bedeutung bei. Vielen dient er daher als Vorbild.

Während der leider immer noch heimatlose Dalai Lama also wieder von Audienz zu Audienz unterwegs ist, können wir uns vielleicht häufiger darauf besinnen, in unserem eigenen Umfeld Mitgefühl und Selbstlosigkeit zu praktizieren. Das macht die Welt auch schon ein Stückchen besser. Selbst ein kleines Lächeln kann den Tag eines Mitmenschen völlig verändern …