Der Boden unter meinen Füßen, das Blut in meinen Adern

Fast alle indigenen Kulturen kennen eine tiefe Verehrung der Ahnen. Dem Schamanen fällt üblicherweise die Aufgabe zu, den Kontakt zu diesen herzustellen. Die Ahnen geben Ratschläge, erteilen Lehren – sie haben eine bessere Perspektive auf die Dinge. Unsere eigenen fernen Vorfahren waren mit den Rhythmen der Erde vertrauter als wir heute. Durch eine Verbindung mit ihnen können wir etwas über unsere Herkunft, die Erde und das Leben lernen.

Manche Stammesmitglieder können ihre Vorfahren durch Geschichten und Lieder über viele Jahrhunderte hinweg aufzählen – etwas, dass unserem westlichen Denken eher fremd ist. Wir konzentrieren uns mehr auf die persönliche Vergangenheit und unsere zukünftigen Ziele. Der Schamane Steven D. Farmer berichtet in seinem Buch „Magie der Erde“ von dem amerikanischen Dichter Gary Snyder, der in Australien auf Reisen war:

Snyder fuhr durch einen Teil der zentralen Wüste auf der Ladefläche eines Pick-ups. Neben ihm saß ein Pintupi-Ältester namens Jimmy Tjungurrayi. Während der Wagen durch die Landschaft rollte, begann der alte Aborigine Snyder sehr rasch eine Geschichte aus der Traumzeit zu erzählen, irgendetwas vom Känguru-Volk und einer Begegnung mit einigen Eidechsen-Mädchen bei einem Berg, der von der Straße aus sichtbar war. Kaum war die Geschichte zu Ende, fuhr er gleich fort mit „einer Geschichte von einem anderen Hügel, der da drüben lag, und noch einer Geschichte über etwas dort drüben. Ich kam gar nicht mit. Nach etwa einer halben Stunde begriff ich, dass er mir die Geschichten mitteilte, die eigentlich während des Gehens erzählt werden sollten, und dass ich gerade die beschleunigte Version von etwas erlebte, das normalerweise während einer Fußwanderung gemächlich in ein paar Tagen erzählt wurde.“

Geht ein Aborigine übers Land – er nennt dies „Walkabout“ –, kann er die gleichen Lieder singen, die seine Vorfahren vor Tausenden von Jahren gesungen haben. Die Sprache ist von Einzelheiten der Landschaft geprägt, und in den Liedern wird die Ahnenreihe bewahrt. Da die Aborigines und ihre Kultur bereits seit 50.000 bis 100.000 Jahren in Australien existieren, ist ihre Mythologie und Sprache aufs Dichteste mit der Geografie verbunden. Das Land steckt voller Geschichten und Lieder. Für die Ureinwohner sind die Ahnen Wesen, die nicht nur in der „Traumzeit“ leben – jenseits des Schleiers des oberflächlichen Wachbewusstseins –, sondern auch in den verschiedenen Formen und Gestalten der physischen Welt und ihrer Wesen; auch die Tiere sind Verwandte.

Die Ahnen sind – physisch betrachtet – tatsächlich in der Welt um uns herum lebendig. Da die grundlegende Einheit des Lebens die DNA ist, und die Atome und Moleküle die kleinsten Bausteine darstellen, finden diese nach dem Tod eines Körpers ihren unweigerlichen Weg in die Umwelt, in die Pflanzen, Bäume, Tiere und sogar in den Menschen. Ameisen, Fliegen, Bakterien und andere verbreiten die Überreste einer Person in der Atmosphäre, im Boden und im Wasser. Nach langer Zeit können sich diese Spuren sogar in Felsen und anderer sogenannter anorganischer Materie befinden.

Nach dem Tod unterliegt der Mensch daher zwei Prozessen: Der physische Aspekt eines Menschen verteilt sich im Land, während der ätherische Teil, die Seele, sich vom Körper trennt und in den Äther aufsteigt. „Die populäre kulturelle Überzeugung hält die Illusion aufrecht, dass unsere körperlichen und unsere spirituellen Aspekte voneinander getrennt seien und dass das eigentliche Selbst der Geist ist, nicht der Körper. Zutreffender wäre jedoch zu sagen, dass sich der Geist einer Person ausdehnt und sich sowohl in den Äther als auch in die materielle Welt hinein auflöst“, schreibt Steven Farmer.

Für ihn ist der Kontakt zu den Ahnen wichtiger Bestandteil der schamanischen Arbeit. Da die Ahnen weiterhin Teil der Erde sind, können sie einen wertvollen Beitrag zur Heilung derselben und unserer eigenen inneren Ganzwerdung leisten. Schamanische Arbeit ist ohne die Erde, die Natur undenkbar. Farmer benutzt daher auch den Begriff „Erdmagie“ für sein Wirken. Er erläutert: „Erdmagie möchte uns unter anderem ermutigen, uns wieder dem Land und all seinen Bewohnern zu nähern und wieder mit der dynamischen Schönheit und Großzügigkeit der Natur direkt vor unserer Haustür vertraut zu werden. Dazu gehört auch, unsere Ahnen zu ehren und zu erkennen, dass sie in einem sehr realen Sinn ein Teil unseres Landes sind, ob sie nun wirklich zu unserem persönlichen Stammbaum gehören oder einfach vor uns auf diesem Land gelebt haben.“

Genau genommen gibt es zwei Arten von Verwandtschaft: blutsverwandte und territoriale Ahnenverbindungen. In den westlich geprägten Gesellschaften ist es seltener, dass jemand noch „auf den Knochen seiner Ahnen geht“, wie die Indianer es ausdrücken – also auf dem Stück Land lebt, das seine blutsverwandten Generationen vor ihm bewohnt haben. Die moderne Gesellschaft ist mobil, schnell und unstet, die Heimat oft in der Ferne. Dennoch ist es möglich, sich mit den eigenen Ahnen zu verbinden. In der geistigen Welt gibt es keine Grenzen von Raum und Zeit. Eine schamanische Reise zu den Ahnen kann viel Licht in unbekannte Winkel der eigenen Herkunft bringen oder auch Wunden heilen, die der Vergangenheit angehören und doch immer noch in die Gegenwart hinein wirken.

Wir tragen durch unsere Gene und unsere ätherische Verbindung mit den Ahnen jegliches Wissen und alle Erinnerung derselben in uns. Das geht so weit, dass wir im Prinzip mit allem Wissen der ganzen Menschheit in Verbindung stehen, denn … ursprünglich stammen wir doch alle von der ersten Frau und vom ersten Mann ab. Wenn wir an Reinkarnation glauben, fällt das Erkennen der Verwandtschaft aller Menschen untereinander noch einmal leichter.

Auch über die territoriale Ahnenverbindung können wir uns dieser Verwandtschaft bewusst werden. Steven Farmer berichtet davon, wie häufig Workshop- Teilnehmer in den USA indianische Geisthelfer auf ihren schamanischen Reisen antreffen. Ähnlich ergeht es Teilnehmern von Workshops in Australien, bei denen regelmäßig Aborigine-Geisthelfer auftauchen. Im Kontakt mit diesen Geistwesen kann viel altes Wissen neu entdeckt werden – Wissen von einem Umgang mit der Erde, welcher Mensch und Natur in einem harmonischen Gleichgewicht leben lässt.

In seinem Buch gibt Steven D. Farmer einen ausführlichen Einblick in die Weisheit unserer indianischen Ahnen und ebenso in moderne Ansätze des Umgangs mit dieser archaischen Menschheits- Tradition.

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BUCH-TIPP
Steven D. Farmer
Magie der Erde
288 Seiten, € 16,95
ISBN: 978-3-86728-133-1
Koha Verlag