Die Sprache der Bilder

In meiner Zeit als Pfarrer an einer Universitätsklinik durfte ich schwerkranke und sterbende Kinder begleiten. Diese Kinder haben mich tief beeindruckt und viel gelehrt. So haben sie zum Beispiel gar keine Angst vor dem Tod. (Sie haben nur Angst, wenn sie spüren dass ihre Eltern Angst haben: Dann übernehmen sie die Ängste ihrer Eltern.) Die Kinder wissen noch, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern ein Tor in eine neue Welt. Sie wissen das aber nicht auf bewusster, sondern eher auf unbewusster Ebene. Alle Kinder, auch die aus nicht-religiösen Familien, haben dieses Wissen. Die Angst vor dem Tod entsteht erst, wenn die Pubertät naht und die Kinder ihr unbewusstes Wissen verlieren. Natürlich tut es den Kindern oft Leid, dass sie ihre Eltern nach ihrem Tod so lange nicht sehen werden. Aber wenn sie dann hören, dass es im Himmel keine Zeit gibt und dass sie dort nur bis zehn zählen müssen, bis sie ihre Eltern wiedersehen, sind sie mit der Antwort sehr zufrieden: Sie wissen irgendwie, dass es stimmt.

Die Kinder machten mir auch klar, dass sie genau wussten, ob sie geheilt oder ob sie sterben würden. Sie wussten es, auch wenn es den Ärzten noch nicht klar war. Aber auch dies war ein unbewusstes Wissen, und deshalb konnten die Kinder darüber nur in der Sprache der Bilder erzählen. “Wenn ich umziehe, dann …”, sagte ein Kind und meinte damit den kommenden Tod. Aber wenn ich gefragt hätte: “Meinst du damit, dass du demnächst sterben wirst?”, hätte das Kind mich wahrscheinlich gefragt: “Worüber reden Sie da? Das verstehe ich nicht.” Einige sterbende Kinder erzählten mir von einem Schmetterling, andere sagten einfach: “Wenn ich bei Oma bin…”, und weil die Oma schon gestorben war, spielten sie damit ganz klar auf ihren bevorstehenden Tod an.

Aber nicht nur Kinder erzählen in Bildersprache von ihrem Wissen. Auch ältere Menschen, denen es schwer fällt, über den nahenden Tod zu reden, sprechen gelegentlich in Bildern. Das Faszinierende ist, dass die Sprache der geistigen Welt keine logische Sprache ist, sondern eine Bildersprache. Deshalb kennen kleine Kinder, die gerade aus dieser Welt kommen, diese Sprache noch, und deshalb fangen ältere Menschen wieder an, diese Welt der Bilder zu betreten: Nach ihrem Tod werden sie ja wieder in dieser Bildersprache mit Engeln und Verstorbenen kommunizieren. Wenn Menschen senil werden, verstehen wir oft nicht, was sie meinen, und deshalb denken wir, dass sie nur Unsinn reden. Aber von dem Schweizer Psychologen C.G. Jung habe ich gelernt, dass wir, wenn wir nicht verstehen, was ein anderer sagt, den anderen nicht für verrückt erklären, sondern lieber den Schlüssel suchen sollten, um die Sprache des anderen zu verstehen. Erich Fromm hat einmal gesagt, dass die Kinder unserer Zeit schon auf der Grundschule die Bildersprache lernen sollten: es sei die einzige universelle Sprache. Die Kinder im Krankenhaus haben mir klar gemacht, wie wahr diese Aussage ist.

BUCH-TIPP
Elisabeth Kübler-Ross
Über den Tod und das Leben danach
89 Seiten, € 11,90
ISBN: 3-923781-02-4