Tod

Der Tod als Entwicklungsweg

Der Tod macht den Menschen Angst, denn kein Lebender weiß hundertprozentig genau, was nach dem Tod passiert. Auch wenn es viele Berichte von Nahtoderfahrungen gibt, die Hoffnung machen, dass es danach in irgendeiner Form weitergeht, so gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der menschliche Tod nicht unser dauerhaftes Ende ist.

TodWenn der Tod unser Ende bedeuten würde, dann wären wir Menschen für immer verloren. Es würde bedeuten, dass wir eigentlich nie wirklich existiert hätten, denn nichts von uns wäre nach dem Sterben noch da. Wir wären vollkommen ausgelöscht und alles, was wir im Leben getan haben, wäre sinnlos – ohne jede Bedeutung. Schließlich hätte es keinerlei Bestand, wenn die Generationen an Menschen uns nach dem Tod irgendwann alle vergessen haben. Doch was ist dann der Sinn unseres Lebens? Warum sind wir alle hier?

Der Tod ist Teil des Lebens

Der Tod gehört genauso zum Leben wie die Geburt. Sie sind zwei Teile eines Ganzen. Denn wenn wir nicht geboren werden, können wir nicht leben, werden auch niemals sterben. Alles im Leben ist diesem Kreislauf unterworfen. Wir sehen es jedes Jahr in der Natur, wenn im Frühjahr die Pflanzen aus dem Boden sprießen und die Bäume Blätter treiben, so werden sie geboren. Über den Sommer leben sie und entfalten für uns ihre Pracht. Und jedes Jahr im Herbst beginnt das langsame Sterben, wenn die Bäume ihre Blätter verlieren und die Blumen sich in die Erde zurückziehen. Auch in jede Familie werden neue Erdenbürger hineingeboren, sie leben neben uns, gedeihen und wachsen heran. Und andere sterben, denn es ist ihre Zeit, wieder zu gehen.

Die Seele ist unsterblich. Sie ist unsere Göttlichkeit.

Wir müssen lernen, den Tod als Teil unseres Lebens zu akzeptieren, und ihn als das annehmen, was er ist: ein natürlicher Vorgang im Leben. Denn wenn wir den Tod nicht verstehen, dann werden wir niemals wahrhaftig leben. Der Tod bringt uns zurück ins richtige Leben. Wie oft ärgern wir uns über Kleinigkeiten und machen uns Gedanken über Dinge, die es nicht wert sind, dass man überhaupt über sie nachdenkt: Ob es der Nachbar ist, der sich über Lärm beschwert, ein unfreundlicher Radler, der einem den Weg abschneidet, der Strafzettel am Auto wegen Falschparkens, die Kinder, die zu spät zum Essen kommen. Wir klagen über mangelnde Unterstützung vom Partner, den verpatzten Urlaub, weil das Hotel nicht stimmte, oder über unseren verlorenen Geldbeutel. Wie viele Menschen klagen täglich über dies und das, sind frustriert und unzufrieden mit ihrem Leben.

Doch wenn jemand, den wir lieben, stirbt, dann fällt dies alles von uns ab. Dann sind wir wieder ganz klar in unserer Welt und wissen, was im Leben wirklich wichtig ist. Denn was st schon ein verlorenes Handy gegen ein totes Kind? Was ist der Streit bei der Arbeit gegen den toten Partner? Was ist schon der Bagatellschaden am Auto gegen den Tod eines Elternteils? Der Tod befreit uns von menschlichen Irrungen. Er zeigt uns, was wirklich wichtig im Leben ist: dass es uns gutgeht, dass wir leben und dass auch die Menschen, die wir lieben, leben und es ihnen gutgeht.

Der Mensch kann den Tod nicht besiegen

Schon immer sind Menschen jung gestorben. Heute hat sich nichts daran geändert, auch wenn die Medizin so viel weiter ist als früher und es in vielen westlichen Regionen friedlich ist. Früher gab es Kutschenunfälle, heute sind es Flugzeugabstürze. Früher gab es Reitund Jagdunfälle, heute sind es Fahrräder, Motorräder und Autos, denen wir zum Opfer fallen. Früher wurde man von Wegelagerern überfallen und getötet, heute stechen sich die Menschen im Streit ab. Früher töteten uns entzündete Wunden und der Blinddarm, heute sind es Mutationen von Viren und Bakterien, denen wir zum Opfer fallen. Früher starben Mutter und Kind oft bei der Geburt oder im Wochenbett, heute sorgen Depressionen für ganze Familienauslöschungen.

Wir können uns noch so sehr dagegen wehren, aber besiegen können wir den Tod in Wirklichkeit nicht. Wenn die letzte Stunde eines Menschen geschlagen hat, dann gibt es keinen Weg zurück. Es ist die Seele, die entscheidet, wann sie gehen will, und kein Mensch kann dies verhindern. Wir Menschen haben nicht die Macht, dem Tod zu widerstehen. Nur die Seele ist dazu in der Lage. Auch Wiederbelebungsmaßnahmen führen nicht immer zum Erfolg, auch wenn die besten Ärzte und die beste medizinische Technik zur Verfügung stehen: Wenn der Tod kommen soll, dann wird er es tun.

Jeder Tod erzählt eine eigene Geschichte

Kein Leben gleicht dem anderen und auch kein Tod einem anderen. Es gibt so viele verschiedene Arten zu sterben, mit denen sich die Angehörigen auseinandersetzen müssen. Jemand, der einen Menschen durch Selbstmord verloren hat, wird andere Erfahrungen machen als jemand, der einen Angehörigen durch Herzinfarkt oder durch Demenz verliert. Manche Schicksale machen uns betroffen, auch wenn wir die Person kaum oder überhaupt nicht gekannt haben. Doch der Tod öffnet etwas in uns, er öffnet das Tor zu unserer Seele.

Wenn jemand stirbt, fängt man an, sich gedanklich intensiver mit demjenigen zu befassen. Man überlegt und grübelt über die Vergangenheit. Man denkt viel über das verlorene Leben nach. Man denkt, was hätte sein können und was wird nie wieder sein? Solange ein Mensch am Leben ist, halten wir das Leben für selbstverständlich. Derjenige ist einfach da und wir können ihn anrufen, mit ihm sprechen und uns mit ihm treffen, wann immer uns danach ist. Niemals grübelt man stundenlang über jemanden, der gesund und voller Leben ist. Erst wenn jemand sehr krank wird oder uns für immer fehlen wird, beschäftigen wir uns vermehrt mit ihm. Der Tod eines anderen Menschen zeigt uns unsere eigene Vergänglichkeit. Er zeigt uns, dass wir nicht ewig auf Erden leben.

Der Tod verändert uns

Wenn wir jemanden verlieren, der uns wichtig war, können wir auch selbst nie mehr in unser altes Leben zurück. Das Leben davor existiert nicht mehr, denn jemand Wichtiges ist für immer von uns gegangen. Solange wir leben, bleibt diese Lücke bestehen. Sie lässt sich durch nichts und niemanden schließen und das muss sie auch nicht.

Der Tod bewegt die Menschen zum Seelenbewusstsein und sorgt für Reinheit in unserer Seele. Er öffnet etwas in uns, das wir am liebsten verschlossen halten, einen Teil von uns, den wir nur ungern offenbaren. Es ist der Kern unseres Seins, unsere Seele. Bei vielen Menschen schafft es nur der Tod, diesen Teil zu öffnen. Denn im Angesicht des Todes verlieren wir jegliche Angst. Schließlich hat der Tod uns bereits alles genommen und ein riesiges Opfer abverlangt. Nun kann uns nichts Schlimmeres passieren und daher sind wir bereit, diese Tür zu öffnen.

Entwicklung unserer Seele

Viele Dinge, die im Leben passieren, lehnen wir ab. Jeder Mensch durchläuft Phasen des Schmerzes, des Leids und Zeiten der Trauer. Wir müssen viele Prüfungen bestehen und Schicksalsschläge bewältigen, anstatt nur Glück und Freude im Leben zu haben. Doch wenn alles im Leben nur wunderschön ist, dann bleiben wir auf einer bestimmten Stufe stehen. Erst wenn wir im Leben ganz tief unten sind, in Situationen kommen, die nicht länger zu ertragen sind, erst dann sind wir bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Erst dann sind wir bereit, etwas zu verändern und die nächste Stufe unserer Entwicklung zu betreten.

Alles im Leben kann man korrigieren, verändern, vielleicht vergeben und rückgängig machen – doch der Tod ist etwas Endgültiges, etwas Nachhaltiges. Er zwingt uns, in unserer seelischen Entwicklung vorwärtszugehen, denn unser altes Leben ist weg. Wenn jemand sehr schwer krank ist und der Tod am Ende eine Erlösung ist, dann reflektiert der Sterbende sein ganzes Leben. Er muss reinen Tisch machen und sich der Frage stellen, ob sein Leben richtig war. Er muss sich der Frage stellen, ob sein Leben einen Sinn hatte, ob er seiner Lebensbestimmung gefolgt ist. Viele Menschen führt diese Selbstreflexion am Ende des Lebens ein Stückchen zurück zu ihrem Selbst – zur Bestimmung ihrer Seele. Denn wir alle kommen alleine auf diese Welt und wir alle gehen alleine von dieser Welt – mit nichts im Gepäck außer der Entwicklung unserer Seele.

Doch nicht jeder Mensch stirbt, um die eigene seelische Entwicklung voranzutreiben. Es gibt Seelen, die stellen ihr Leben in den Dienst für andere. Wie kleine Engel leben sie unter uns, um eines Tages wieder aus unserem Leben zu verschwinden. Je jünger derjenige war und je plötzlicher der Tod eingetreten ist, umso mehr dient der Tod der Entwicklung der Menschen, die um ihn herum waren. Diese Seelen erweisen den Hinterbliebenen eine Art Liebesdienst, denn nichts im Leben ist so wichtig wie unsere seelische Entwicklung. Und diese jungen Menschen sind auch nicht verloren, denn nicht jede Seele braucht achtzig Jahre, um ihren Seelenweg in einem Leben zu gehen. Manche Seelen brauchen nur wenige Jahre, um ihre Bestimmung auf Erden zu erfüllen. Es geht im Leben auch niemals um die Jahre, die wir mit einem Menschen verbringen, wichtig ist nur die Intensität. Denn wie viel ärmer wäre unser Leben, hätte dieser junge Mensch niemals gelebt.

Bei Unfällen spielen oft sehr viele Kleinigkeiten eine Rolle. Wie bei einer Kette von Ereignissen ist ein Unfall nur das letzte Glied. Wenn etwas passieren soll, dann kann der Mensch dies niemals verhindern. Bei Autounfällen mit vier Personen im Fahrzeug, von denen nur einer stirbt, ist es da wirklich Zufall, dass es gerade diesen Menschen trifft? Hätte er an einem anderen Platz gesessen, wäre dann wirklich eine der anderen Personen gestorben? Ich denke nicht. Und wenn man die Zeitungsberichte liest, in denen ein Kind, ein Jugendlicher oder ein junger Erwachsener gestorben ist, dann findet man dort eine Art roten Faden – alle Angehörigen sagen das Gleiche: Er oder sie war ein Sonnenschein. Er oder sie hat das Leben geliebt. Er oder sie war voller Freude und nun ist er oder sie tot. Für mich zeigt dies, dass diese Seelen gewusst haben, dass sie nur ein paar Jahre hier sein werden. Sie hatten niemals vor, alt zu werden, und sie haben ihr Leben wahrhaftig gelebt und geliebt.

Es heißt immer: Im Leben gibt es keine Zufälle – warum sollte dies dann beim Tod anders sein?

Buch-TIPP
Nathalie Schmidt
Warum?
Der Tod als Entwicklungsweg

254 Seiten, € 14,95
ISBN: 978-3-8434-1119-6
Schirner Verlag

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