Ins Herz des Lebens und des Seins

Schamanen in aller Welt, von Tibet über die Mongolei bis hin nach Amerika, befassen sich seit Urzeiten mit der Kunst des Heilens. Der Schamanismus, vielleicht so alt wie das Bewusstsein selbst, ist eine uralte Heilungstradition, die in ihren Facetten den Wandel der Kulturen der sie umgebenden Welt im laufe der Jahrtausende widerspiegelt.

Die schamanische Tradition umfasst dabei sowohl die individuelle Heilung durch persönliche Transformation als auch die Heilung unserer Familien, unserer Gemeinschaft und Umwelt. Im Kern dieser Heilungstradition steht die Überzeugung, dass wir unsere Mutter Erde, die als ein lebender und bewusster Organismus betrachtet wird, heilen und ehren müssen. Schamanen sagen, dass wir diese heilige Göttin Erde, die unser eigenes Leben erhält und nährt, ebenfalls erhalten und nähren müssen – und zwar durch unsere Gebete und Zeremonien.

Die Huichol in Mexiko sind wohl die letzte nordamerikanische Stammesgesellschaft, die ihre präkolumbianische Tradition erhalten hat, bis vor Kurzem kaum beeinflusst durch Kolonisation und Christianisierung. Ich hatte das Glück, von diesen wunderbaren Menschen lernen zu dürfen und war 12 Jahre lang Lehrling von Don José Matsuwa, dem berühmten Huichol-Schamanen und -Heiler, der 1990 im Alter von 110 Jahren verstorben ist.

Die Huichol lehrten mich, dass Heilung eine Lebensweise ist, eine Seinsweise, die unsere ganze Existenz durchdringt. Heilung ist etwas, das ständig praktiziert werden muss, nicht nur wenn wir krank sind. Darüber hinaus beschränkt sich die schamanische Tradition nicht auf das Heilen des physischen Körpers, sondern beinhaltet die Aufrechterhaltung der Harmonie und des Gleichgewichts des Universums. Wir müssen bewusst Kontakt mit allem Leben aufnehmen, unser Leben in allen Dingen sehen, damit Leben und Gesundheit in unseren Herzen verankert bleiben.

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Bei unserer ersten Begegnung erzählte mir Don José von unserer Mutter Erde, die uns ernährt und zu unserem Herzen spricht. Ein Schamane lernt, sowohl mit seinem Herzen als auch mit seinen Ohren zu hören, und deshalb macht Schamanismus als Heilkunst einen Menschen vollständig und ganz, zu einem vollständigen System, das ganz in seine Umwelt integriert ist.
Im Schamanismus wird alles Leben als auf geheimnisvolle und großartige Weise miteinander verbunden und als heilig betrachtet. Pflanzen, Steine, vier- und zweibeinige Kreaturen haben alle ihre eigenen Persönlichkeiten, mit denen der Schamane ebenso individuelle Beziehungen eingeht. Wenn ein Schamane betet, betet er nicht nur für sich selbst, sondern auch für all seine heiligen Verwandten: für Mutter Erde, Vater Sonne, Großvater Feuer sowie für unsere Großmütter, den Adler und die anderen geflügelten Wesen. Don José lehrte mich, nie zu vergessen, dass die Erde, der Himmel, die Flüsse, Vögel und Tiere, Steine und Edelsteine, Berge, Höhlen, Quellen und Seen meine Verwandten sind.

Verschiedenen schamanischen Mythen zufolge gab es eine Zeit, in der das Paradies tatsächlich existierte und alles Leben miteinander verbunden war. Das Feuer kommunizierte zu jener Zeit z.B. freimütig mit den Menschen. Heute ist diese Verbindung verloren und deshalb fungiert der Schamane als eine Art Überbrückung, indem er die verlorenen Verbindungen mit dem sichtbaren wie unsichtbaren Leben um sich herum wieder aufnimmt. Er dient als Vermittler zwischen den Menschen und anderen Lebensformen: den Göttern und Göttinnen sowie allen anderen Wesen, die gemeinsam mit uns die Erde bewohnen. Schamanen besitzen außerdem die Fähigkeit, sich selbst in ein Geistwesen zu verwandeln, ganz so, als ob sie den Schlüssel zum Prozess der Metamorphose in der Hand halten würden. Insofern war die Rolle des Schamanen in seiner jeweiligen Gemeinschaft schon immer eine lebenswichtige, weil er als die lebendige Verbindung zu seiner Umwelt fungierte.

»Ist euer Herz glücklich?«, fragt Don José die Kinder, die zu seiner Hütte kommen. »Tanzt mit eurem ganzen Herzen. Wir folgen dem Beispiel der Götter und dem Pfad, den sie uns gelehrt haben. Das ist unser Leben.«

Als Heilkunst versucht der Schamanismus stets das Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen, sowohl für das Individuum wie auch für den Planeten. Alles Leben ist letztlich eins und es liegt in der Verantwortung des Schamanen, die Kräfte von Balance, Harmonie und Intuition miteinander in Einklang zu bringen. Wenn wir unser Leben als eins mit unserer Umwelt feiern, dann wird unsere Umwelt uns danken, z.B. mit einem ausgewogenen Verhältnis von Sonnenschein und Regen.

Eingebettet in die schamanische Heilungstradition sind bestimmte Ekstasetechniken. Dabei dient die Ekstase dem Schamanen dazu, die Einheit mit allen Dingen zu erfahren. Zeremonielle Feiern zum Erreichen der Ekstase nutzen uralte Rituale, um das empfindliche Gleichgewicht unserer Umwelt und unseres Universums aufrechtzuerhalten genauso wie, um in das eigene Herz zu blicken und die ekstatische Freude zu fühlen, die aus unserem eigenen Wesen hervorscheint.

Der »Tanz des Hirsches«, ein wunderschöner heiliger Tanz der Huichol, wird eingesetzt, um die Zeremonie-Teilnehmer in einen Trancezustand voller Freude und Ekstase eintreten zu lassen. Der Schamane und sein Gehilfe singen die uralten Lieder, währen alle anderen um sie herumtanzen. Vereint als ein Herz durchschreiten alle gemeinsam einen heiligen Durchgang, den die Huichol »Nierika« nennen, das Gesicht des Göttlichen oder das Bindeglied zu den anderen Reichen der Bewusstheit und des Seins.

Während der Zeremonie beschwört der Huichol-Schamane seinen Verbündeten oder Geisthelfer Kauyumari, den magischen Hirschgeist, ihm dabei zu helfen, alle Teilnehmer durch die Nierika in das Reich der ekstatischen Freude und Harmonie zu transportieren. Die Tänzer unterstützen den Schamanen ebenfalls, weil sie wie der Hirsch ebenfalls zu Boten der Götter werden. Die Teilnehmer öffnen sich, um durch die Zeremonie transformiert und erneuert zu werden, und die Lebenskraft wird auf eine heilige Weise übertragen. Dem Schamanen und den Teilnehmern wird ein Mittel an die Hand gegeben, um die Sphären der Götter und das Herz bzw. die Quelle des Lebens selbst zu erreichen.

Schüler des Schamanismus müssen viele Mühen auf sich nehmen und große Stärke zeigen, sowohl innerlich als auch äußerlich. Pilgerreisen zu »Orten der Kraft« (Höhlen, Quellen, Ozeane oder Bergspitzen) bilden einen wesentlichen Aspekt schamanischer Heilung, weil den Pilgern am Ziel ihrer Reise besondere Kräfte und Segnungen zuteil werden.

Gleichzeitig umfasst das alltägliche Leben eines Schamanen einen wesentlich weltlicheren und bodenständigeren Aspekt: Viele Huichol-Schamanen sind – genau wie zahlreiche Schamanen anderer Kulturen – einfache Bauern, die Tag für Tag mit der Erde arbeiten und so eine ganz besondere Beziehung zu ihrer heiligen Mutter aufbauen.

Die Weisheit zeremonieller Feiern, Pilgerreisen zu heiligen Plätzen sowie ein bodenständiges Alltagsleben, das alles hilft uns, das Gleichgewicht zwischen uns Menschen und unserer Umwelt zu bewahren und ist doch vielen Menschen in der modernen Welt abhanden gekommen. Genau aus dem Grund adoptierte mich Don José als seinen Enkel und lehrte mich die uralte Kunst des Schamanismus und der Heilung.

»Du bist ein gebildeter Mann, der seine Welt kennt und versteht«, sagte er mir. »Jetzt wirst du unsere Welt ebenfalls kennenlernen und beide nutzen können, um den modernen Menschen das wieder nahezubringen, was wir nie zu vergessen versucht haben. Es gibt ein Gleichgewicht zwischen unseren beiden Welten, mein Enkel: Genauso ist es.«

Brant Secunda
Im Jahr 1978 schloss Brant Secunda eine 12-jährige Ausbildung zum Schamanen in der indianischen Huichol-Tradition ab. Sein Lehrer und Mentor war Don José Matsuwa, ein Meister-Schamane in dieser Tradition, deren Wurzeln weit in die präkolumbianische Zeit zurückreichen. Die Huichol leben in Mexiko, in den Bergen der Sierra Madre. Sie werden als einer der letzten Stämme angesehen, die das alte Wissen bis auf den heutigen Tag bewahrt haben. Don José war der bekannteste Stammesälteste und Schamane der Huichol; er starb im hohen Alter von 110 Jahren.

Brant Secundas Initiation bestand u.a. in einer fünftägigen »Vision Quest«, bei der er alleine in der Wüste ohne Nahrung und Wasser in einer heiligen Höhle der Huichol verweilen musste. Weitere Einweihungsriten waren: eine Klapperschlange mit bloßen Händen zu fangen, um die Angst vor dem Tod zu überwinden, eine 14-monatige Reinigungsdiät, bestehend aus Früchten, sowie eine 9-tägige Visionssuche, um die Sprache der Götter der Huichol-Kosmologie zu erlernen. Nach Abschluss seiner Ausbildung wurde er als respektiertes und gleichgestelltes Mitglied in den Huichol-Stamm aufgenommen.

Durch die Gründung des »Dance of the Deer Foundation Center for Shamanic Studies« hat sich Brant Secunda großen Verdienst an der Erhaltung der Huichol-Kultur erworben.

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