Im Nu zur Stille finden

Unbemerkt und ungelebt vergehen etliche Momente in unserem Alltag, ziehen an uns vorbei, während wir in Gedanken oder Gesprächen versunken sind, warten oder eilen, abgelenkt und absorbiert vom Strom medialer und realer Botschaften. Es reicht, sich nur einen dieser Momente herauszupicken, um dem Leben einen neuen Impuls zu geben.

Wenn Albert Einstein sich während seiner komplizierten Berechnungen einmal ausruhen wollte, gönnte er sich ein ganz kurzes Nickerchen. Mit einem Schlüssel in der Hand. Sobald ihm dieser aus der Hand fiel, hatte er sich genügend erholt und machte sich wieder an die Arbeit.

Nicht nur der sogenannte »Minutenschlaf« zeigt, dass es nicht immer eine Angelegenheit von einer halben Stunde oder mehr sein muss, um ausgeruht und frisch zur Tagesordnung überzugehen. Auch was Meditation angeht, muss es nicht immer die Sitzung von mindestens einer halben Stunde sein, um den Zustand der Stille zu erreichen. Schließlich ist es auch während einer Meditation meist nur ein Moment, in dem sich das Tor zur Stille auftut. Und wie die verstreichende Zeit dann empfunden wird, kann ganz unterschiedlich sein. Oft ist man dabei erstaunt, dass die Zeiger auf der Uhr sich kaum bewegt haben, obwohl eine Ewigkeit vergangen zu sein scheint.

Bewusste Momente schaffen

Manchmal ist es umgekehrt. Wenn man sich es genau überlegt, vergehen stündlich viele einzelne Augenblicke, die das Potenzial für alles Mögliche in sich tragen. Es ist immer ein einzelner Moment, in dem eine Entscheidung fällt, Ja-Worte gegeben werden, der Forscher die lang gesuchte Antwort zu einem ungelösten Problem findet, ein lang gehegter Groll in Vergebung umgewandelt wird, ein Kranker Heilung findet und … der Suchende Erleuchtung erfährt. Es sind die Momente, in denen wir bewusst sind, die unser Leben verändern können. Im Gegensatz dazu stehen die vielen Momente, die wir im Alltag unbewusst und routiniert durchleben. Warum sollten wir nicht einige davon nutzen, um zu uns zu kommen, um Phasen des Stresses zu überwinden oder einfach einen neuen Fokus zu bekommen?

Inspiration, Intuition, Vision, tiefe Erkenntnisse und Frieden erlangt man, wenn man völlig in die Stille abtaucht und das erreicht, was einige »göttliche Quelle« oder »Akasha-Feld«, andere »Brahms«, »Advaita« oder »Unendlichkeit« nennen. Wir verbinden uns dann mit etwas Größerem, mit dieser Urmatrix, der wir alle entspringen und die die Macht hat, uns jederzeit in Fluss zu bringen. Nicht zuletzt deswegen wird vermehrt vom positiven Effekt des Meditierens berichtet: Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge weiß man inzwischen, dass Meditation die Stimmung hebt, Ängste vermindert, Depressionen lindert, den Blutdruck senkt und die Widerstandskraft stärkt.

Partikel, die den Ausschlag geben

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Der Amerikaner Martin Boroson hat sich daher eine zeitgemäße Herangehensweise an das Meditieren ausgedacht. One Moment Meditation heißt seine Methode, mit der er die positive Wirkung des Eintauchens in den Moment jedem zugänglich macht – auch denen, die täglich nur wenige Minuten Zeit haben. Er erinnert daran, dass »Moment« vom lateinischen Wort abstammt, das soviel bedeutet wie: ein Partikel, der den Ausschlag geben kann. Der gegenwärtige Moment ist für Boroson – wie für vielespirituelle Lehrer – von großer Bedeutung, etwas grundlegend Spirituelles. In seinem Buch zur One Moment Meditation sagt er:

»Da der Moment keine Zeitspanne umfasst, kann man ihn nicht als Zeiteinheit bezeichnen. Tatsächlich ist der Moment überhaupt keine »Sache« – und darum bekommt man ihn auch nicht zu fassen. Ich persönlich glaube, der Moment ist im Grunde nichts anderes als eine Erfahrung – eine Erfahrung, in der die Zeit der Zeitlosigkeit weicht. Oder anders gesagt: Der Moment ist der Punkt, an dem die Zeit sich auflöst. Er ist so klein, dass er eigentlich schon wieder riesig ist; so unsagbar winzig, dass er eigentlich unendlich ist. Wenn du vollkommen im Moment bist, löst dich dein konventionelles Zeitempfinden auf und die Erde hört auf, sich zu drehen. Deshalb ist es auch so etwas Besonderes, im Moment zu sein, und deshalb streben so viele Menschen auf spiritueller Suche danach: Wenn du im Moment bist, berührst du die Ewigkeit.«

Der Stille näher als wir glauben

Aus diesem Grund ist der einstige Yale-Student mit spirituellem Interesse fest davon überzeugt, dass eine Meditation von einer Minute oder sogar weniger genauso nützlich ist wie eine lange Meditationssitzung. Der erwünschte Effekt – nämlich das Verstummen des inneren Gesprächs mit sich selbst – ist mit seiner Methode genauso gut erreichbar wie mit der konventionellen. Sie ist für den modernen westlichen Menschen vielleicht sogar die bessere Alternative, um langfristig von einer unbewussten zu einer bewussten Lebensweise zu gelangen. Die Minuten- Meditation hat den Vorteil, dass sie sich sehr spontan einsetzen lässt, an jedem beliebigen Ort, zu jeder beliebigen Zeit. Wenn man will, kann man so im Laufe des Tages viele Male auftanken und abschalten – immer jeweils für einen kurzen Augenblick, ohne Zeitaufwand und ohne Druck. Es geht schließlich nur um eine Minute.

»Da man Zufriedenheit immer nur im Jetzt finden kann, im gegenwärtigen Moment, folgt daraus auch, dass es überhaupt keine Zeit in Anspruch nimmt.
Es braucht nur einen Moment.« – Martin Boroson

In einem einzigen Moment kann sich etwas während der Meditation öffnen und eine völlig neue Realität offenbaren. Durch die One Moment Meditation lernt der Anwender, den Moment als etwas absolut Revolutionäres zu sehen. »Jeder Moment kann ein Leben völlig auf den Kopf stellen«, so Boroson. Der Vorteil dieser Meditationspraxis ist auch, dass innere Stille nicht als etwas betrachtet wird, das in der Zukunft liegt, sondern das uns sofort erfüllen kann. Denn eigentlich sind wir der Stille viel näher, als wir glauben. Sie bedarf nicht eines »mehr«, sondern eines »Weniger«. Von daher ist der Ansatz der Methode durchaus plausibel.

Grundübung: Die Basisminute
  1. Finde den Platz, an dem du allein und ungestört bist.
  2. Setze dich hin.
  3. Bringe deine Beine in eine entspannte, aber stabile Position.
  4. Setze dich aufrecht hin.
  5. Stelle deinen Wecker auf exakt eine Minute ein.
  6. Lege deine Hände in einer entspann- ten, aber stabilen Position ab.
  7. Schließe die Augen.
  8. Erlaube deinem Geist, in deinen Atem zu sinken.
  9. Wenn der Wecker klingelt, beende die Übung.

Meditation im Miniformat

Die Basisminute dient dazu, zu lernen, in nur einer Minute Stille zu erfahren. Sie erleichtert es, ein Gespür dafür zu bekommen, dass die Stille jederzeit da ist. Wir müssen sie nur wahrnehmen. Boroson geht dabei noch weiter. Im Verlauf seines kurzweiligen Trainings, das er ausführlich in seinem Buch darlegt, sollen die Praktizierenden sich langsam einer noch kürzeren Meditationsdauer nähern. Damit wird Stille immer unmittelbarer, bis man auf Abruf im Nu still werden kann, anhält im Gedankenstrom, der einen sonst so schnell davonspült. Die Begegnung mit dem unmittelbaren Moment wird zur Routine.

Die Übungen, die Martin Boroson sich ausgedacht hat, klingen leichter, als sie sind. Zuweilen erfährt man selbst in einer Minute die üblichen Schwierigkeiten, zur Ruhe zu kommen. Und doch kommt man in der kurzen Zeit meistens doch noch in die Stille. Das Ganze gleicht einer gängigen Meditationssitzung im Miniformat. Die One Moment Meditation hilft, den kurzen Moment wahrzunehmen, zu verstehen und wertzuschätzen. Mit fortschreitender Praxis, so der Autor, nehme man die Zeit anders wahr, erkenne die Lücken, die aus purer Stille gemacht zu sein scheinen. Zudem lässt sich augenblicklich das Stressniveau reduzieren. In Augenblicken der Angst kann man die Technik auch anwenden, um kurz innezuhalten. Oder man nutzt sie, um sich einfach einzuklinken in die kosmische Matrix.

Eine Minute mit vollem Einsatz

Der gebürtige New Yorker schreibt zur Wirkung der Meditation: »Während dieses Moments, dieser Freiheit von der Zeit, kann sich ganz spontan unglaublich viel ereignen. Du kannst eine plötzliche Erkenntnis über dich selbst haben. Dir kann eine neue Idee einfallen. Du spürst vielleicht sogar die grundlegende Verbundenheit zwischen dir selbst und allem, was ist. Vielleicht hast du das Bedürfnis zu lächeln – ganz ohne Grund. Vielleicht brichst du in Lachen oder Tränen aus, weil du erkennst, wie vollkommen alles ist. Du kannst sogar die Welt von einer viel, viel größeren Perspektive aus betrachten. Es ist auch möglich, dass du einen Moment lang gar nicht erfährst. Mit anderen Worten: Du hörst ganz einfach auf, zu sein – es gibt kein »Du« und so bist du auch nicht da, um es zu erfahren. Das ist vielleicht der wichtigste Moment überhaupt.«

Und … wie ist Martin Boroson überhaupt auf diese Art der Mini-Meditation gekommen? Im Interview erzählt er: »Eines Morgens saß ich bei meiner üblichen 30-minütigen Meditation, fest entschlossen, ganz still zu sitzen, den Blick nach unten gerichtet, und zwar die ganzen 30 Minuten lang. Doch an diesem speziellen Morgen fand ich einfach keine Ruhe, meine Gedanken rasten nur so dahin und die Zeit schien im Schneckentempo zu vergehen. Irgendwann sah ich zur Uhr und stellte fest, dass ich 29 Minuten darauf verwendet hatte zu überlegen, ob nicht doch schon 30 Minuten vergangen waren. Enttäuscht dachte ich: ›Jetzt, wo nur noch eine Minute übrig ist, kann ich eigentlich gleich aufhören für heute.‹ Und dann traf es mich wie der Blitz: ›Was ist verkehrt an einer einminütigen Meditation? Was habe ich in 30 Minuten zu erleben gehofft, was ich nicht auch in einer Minute erleben könnte?‹ Ich beschloss, eine Minute lang zu meditieren … dafür aber mit vollem Einsatz.«

Martin Boroson
Martin Boroson studierte Philosophie und Betriebswirtschaft in Yale. Sein Fokus schwenkte jedoch bald auf Psychologie, Spiritualiät und Kunst, so dass er sich z.B. bei Stanislav Grof in transpersonaler Psychologie ausbilden ließ. Heute ist er als Berater für innovative Unternehmen tätig und bietet Seminare zur One Moment Meditation an.

Weitere Informationen

Buch-TIPP
Martin Boroson
One Moment Meditation Stille in einer hektischen Welt
200 Seiten, € 17,95
ISBN: 978-3-89901-548-5
Verlag J. Kamphausen