Der Liebe zuliebe

Unter dem Deckmantel der Liebe verbirgt sich oft einiges, das kaum als Liebe bezeichnet werden kann: Besitzdenken, Angst, Gewalt. Wer wirklich lieben will, muss es manchmal erst noch lernen.

Bevor ich mich an diesen Artikel mache, sehe ich zufällig eine Dokumentation über Grace Kelly im Fernsehen. Mit 25 bereits ein Oscar. Dann die spektakuläre Heirat mit Fürst Rainier III von Monaco. Das Ganze mutet märchenhaft an. Doch der Schein trügt: Die attraktive Schauspielerin sehnt sich zeitlebens nach einer Fortsetzung ihrer Filmkarriere. Die Pflichten und Anforderungen an die zwar wichtige, doch mit wenig Freiheiten ausgestattete Fürstin waren zu zahlreich, als dass sie einen solchen Neuanfang hätte wagen wollen.

Ob es die Liebe wert war? War es überhaupt eine Heirat aus Liebe? Von Affären des Fürsten munkelte man damals. Von Depressionen der Fürstengattin. Schließlich starb Grace Kelly mit 52, als sie bei einer Autofahrt die Kontrolle über das Fahrzeug verlor, nicht unweit der Stelle, wo sie etwa 25 Jahre zuvor Gary Grant auf dem Beifahrersitz mit ihrem rasanten Fahrstil das Fürchten gelehrt hatte.

Ein anderes Beispiel: Tina Turner. Ihr Ehemann Ike, der sie in die Musikbranche einführte und von da an ihre Karriere bestimmte – vom Outfit bis zum Repertoire unterlag alles seinen Vorgaben –, misshandelte seine Frau jahrelang. Durch eine Freundin wurde die Sängerin eines Tages auf das Chanten aufmerksam. Sie begann, all ihre freie Zeit mit dem rhythmischen Sprechgesang eines bestimmten Mantras zu füllen (sie macht diese Übung auch heute noch – 30 Jahre später). Es dauerte nicht lange und Tina fand die Kraft und den Mut, sich ihrem damaligen Ehemann entgegen zu setzen und ihn zu verlassen. Dabei drohte er ihr sogar, sie zu erschießen, wenn sie ihn verlassen würde!

Hier war es die Liebe sicherlich nicht wert gewesen. Dennoch brauchte Tina Turner 12 Jahre, um sich aus dieser unglücklichen Beziehung zu entfernen…

Was ist der Grund dafür, dass besonders Frauen viel zu lang in einer Verbindung ausharren, die ihnen nicht gut tut, sie teilweise sogar mit erheblichem seelischen oder körperlichem Schmerz konfrontiert? Kann dies wirklich als Liebe bezeichnet werden? „Das Etikett der Liebe klebt auf Unzulänglichkeiten, Unsicherheiten, Ängsten aller Couleur, Eifersüchteleien, Egozentrik, Machtspielen, sexuellen Phantasien etc., und irgendwie scheint der Rest der Welt stillschweigend davon auszugehen, dass es sich bei all diesen Abgründen um das verbindende, lichtvolle, strahlende, einzigartige, wunderbare Gefühl aufrichtiger Liebe handelt“, schreibt Julia Kathan, Autorin des Buches „Alles für ein bißchen Liebe“, das sich eingehend mit dem Thema Liebessucht auseinandersetzt.

Es geht hier um den häufigen Typus Frau, der sich stets in den Falschen, in den Unnahbaren, den Unzuverlässigen und noch Schlimmere verliebt. Statistisch gesehen geraten Frauen weitaus häufiger in diese Art Opferrolle. Die heimliche Geliebte, die nie eine Chance gegen die offizielle Ehefrau hat, die Betrogene, die den Frauenheld bekocht, die Helfernatur, die den Problemfall-Mann von irgendeiner Sucht befreien will: Das sind ihre Rollen. Die Männer, die hier hoch im Kurs stehen, machen sich gerne rar, sind cool, viel beschäftigt, manchmal von der Liebe enttäuscht, eigensinnig, bestimmend und mitunter schlichtweg destruktiv. Sie erscheinen immer etwas wichtiger, als sie sind, und im Grunde sind sie beziehungsunfähig.

Für Julia Kathan, die selbst durch die Hölle der Liebessucht gegangen ist, steht fest, Frauen, die dieser Sucht erlegen sind, haben große Angst davor, alleine zu sein oder verlassen zu werden. Im Grunde befindet sich ihr Selbstwertgefühl im Keller und das nicht erst seit gestern. Während solche Beziehungen ohnehin ihre Spuren hinterlassen, liegen die tieferen Ursachen in der eigenen Vergangenheit, dem Muster der Familie, in der man aufgewachsen ist. Die gute Nachricht: Es gibt Wege aus diesen Mustern, die frau immer noch mit sich trägt; und eine co-abhängige Beziehung ist sogar die beste Chance, die auftauchenden alten emotionalen Ablagerungen Stück für Stück abzutragen.

Julia Kathan zumindest scheint es geschafft zu haben. Die Schauspielerin, Songschreiberin, Flamenco-Tänzerin und Mutter einer 4-jährigen Tocher praktiziert seit 20 Jahren Buddhismus und gibt heute ihrer Erfahrungen zum Überwinden der Liebessucht weiter. Anzeichen für die Tendenz oder die ausgereifte Form der Liebessucht diagnostiziert die Autorin mit Hilfe von Beispielfragen wie: Vergehst du in quälender Sehnsucht nach ihm? Fragst du dich (und ihn) immer wieder, warum er dich nicht so sehr will wie du ihn? Musst du viele Konzessionen an deine eigentlichen Vorstellungen machen, um mit ihm zusammen zu sein? Gibt es da eine unterschwellige Faszination bei dir, von ihm abgelehnt zu werden? Geht in dir durch seine Unnahbarkeit nach kurzer Zeit eine gefühlsmäßige Abwärtsspirale los? Die Diagnose „Liebessucht“ mag dabei zuerst harmlos erscheinen. Doch führt anfängliche Sehnsucht oft zu verzweifelter Besessenheit, welche die Macht hat, Menschen in Depressionen und Gefühle tiefster Verlorenheit, Sinnlosigkeit und sogar vom Balkon zu stürzen, erläutert Kathan. Auch Essstörungen sind häufig bei diesem Typ Frau anzutreffen. Der Frust wird mit Leckerbissen herunter geschluckt und die sich anhäufenden Kilos nicht selten als Anlass zu weiterer Selbstabwertung genommen. Die große Leere im Innern will gefüllt, aber nicht gefühlt werden.

Genau an diesem Punkt setzt nun die heilsame Kehrtwende ein. „Wir können das Drama unserer Lovestory umschreiben, wenn wir bei uns selbst anfangen“, schreibt Julia. Der Blick in den Spiegel, das Loslassen von Projektionen auf das Gegenüber sind die effektivsten Wege, auf denen man zu einer wahrhaftigen erfüllenden Liebe finden kann. Das Ego liebt solche Methoden der Selbstüberprüfung natürlich überhaupt nicht. Doch wer den Blick in die eigenen Untiefen wagt, wird mit der Zeit vieles dort entdecken, was sonst immer dem Partner angelastet wurde. Diese Einsicht verändert die ganze Perspektive.

Stellen Sie sich zuerst einmal vor, Ihre Freundin würde sich so verhalten, wie Sie sich Ihrem Freund gegenüber verhalten, schlägt Julia der liebessüchtigen Frau vor. „Stellen Sie sich vor, Ihre beste Freundin würde damit anfangen, Sie jeden Tag anzurufen, Ihren Tagesablauf voll auf Sie einzustellen und sich in jeder Hinsicht komplett von Ihnen abhängig zu machen.“ Das klingt schon verrückt, oder? Wie sollte ein Mann sich bei solch einem Verhalten gut fühlen? „Der Retter weiß selber nicht, wo‘s langgeht“, sagt die Motivationstrainerin. Wieso sollte er auch?

Der Blick in den Spiegel verrät noch mehr. Augenscheinliche Hingabe entpuppt sich nicht selten als eine Forderung nach seinem Begehren. Es ihm stets recht machen zu wollen, kann sich als pures Verlangen nach Aufmerksamkeit darstellen. Selbstmitleid und Bedürftigkeit werden nebenbei dazu benutzt, dem Mann eine gute Portion Schuldgefühle zuzuschieben, damit sie in der Position der moralisch „Guten“ brillieren kann. Nicht selten versuchen liebessüchtige Frauen außerdem ihren Partner unterschwellig zu manipulieren und zu kontrollieren – alles unter dem Deckmantel der Fürsorge und des Unterstützens. Die vermeintliche Märtyrerin trägt dabei nicht selten eine ordentliche Portion Frust und Wut mit sich herum, die nichts von wirklicher Opferbereitschaft hat, sondern stets etwas im Gegenzug verlangt. Wer sich innerlich leer und schwach fühlt, kann nicht nähren und stärken, das ist ein Trugschluss. Warum also nicht erst einmal um sich selbst kümmern?

Noch einmal zurück zum Spiegel: Wird der Mann also als beziehungsunfähig, verklemmt, unentschlossen oder egoistisch tituliert, so lassen sich tatsächlich bei der liebessüchtigen Partnerin genau dieselben Attribute wiederfinden. Schwacher Mann – schwache Frau, das Resonanzgesetz lässt grüßen. Und selbst wenn es scheint, er habe Angst vor Nähe und sie habe Angst vor dem Verlassenwerden, so ergänzen sich diese beiden Ängste doch hervorragend, da sie nur eine Seite der selben Medaille sind. Jede Eigenschaft trägt in ihrem Schatten das genaue Gegenteil von sich, ausführlich erklärt und belegt durch den Psychologen C.G. Jung. Das Jin-Yang-Zeichen symbolisiert und repräsentiert diese Tatsache ebenfalls sehr gut.

Eine Beziehung, die auf Ängsten beruht – welche Art Ängste auch immer – kann im Grunde gar nicht mit wahrhaftiger Liebe verglichen werden, denn Liebe ist das Gegenteil von Angst. Echte Liebe klammert nicht, engt nicht ein, sondern lässt los und akzeptiert den anderen bedingungslos. Diese Dinge sind nicht so schwer zu erreichen, wie manch eine meint. Es gilt in erster Linie, nach innen zu blicken, bewusst zu beobachten, wo blinde Flecken in der eigenen Sicht den ungetrübten Blick verhindern.

Die Liebessüchtige, eigentlich alle Frauen sollten sich vornehmen, zu allererst herauszufinden, was ihre Mission und ihre innersten Herzenswünsche sind und ihnen folgen! Kein anderer kann dies für sie tun. Und sie kann es ebenso für niemand anderen tun. Sie sollte sich selbst entdecken, ihr Leben, wer sie wirklich ist. Wenn sie dann irgendwann zurück schaut auf ihrem Weg, sollte sie ein Stück reicher an Selbstvertrauen, Liebe und Freude sein. „Wenn Dein Leben erblüht, erblüht auch die Liebe mit deinem Partner, weil deine Bedürftigkeit wegfällt und keinen Platz mehr fordert“, schreibt Julia Kathan und ergänzt: „Du kannst dich auch ohne den anderen in dein Leben verlieben und die Begeisterung für deine Existenz dann mit deinem Partner teilen – statt ihn als Bedingung dafür zu sehen, dass dir dein Leben lebenswert erscheint.“

BUCH-TIPP
Julia Kathan
Alles für ein bißchen Liebe?
192 Seiten, € 13,50
ISBN: 978-3-930243-46-4
Omega Verlag