„Wenn dich ein Gegner angreift, schließe ihn ins Herz!“

Eines der authentischsten Beispiele für eine kraftvolle Synthese moderner asiatischer Kampfkünste und traditioneller Philosophie ist der von dem Japaner Morihei Ueshiba entwickelte Aikido-Stil. Während seine Landsleute sich an den verlustreichen Kämpfen des zweiten Weltkrieges beteiligten, schuf Ueshiba seine paradigmatische Antithese körperlicher Gewalt. Bis heute ist er seinen Schülern und Schülerinnen als vollendeter Meister einer symbiotischen Einheit von mentaler und physischer Stärke und Vitalität in Erinnerung geblieben.

Fernöstliche Philosophie und traditionelle Kampfkünste haben aufgrund ihrer natürlichen und ausgleichenden Prinzipien seit jeher großen Anreiz auf Nachahmer und Interessierte im Westen ausgeübt. Das weniger kausal als empirische Vorgehen und die Betonung auf tatsächliche Lebensvorgänge wie Atmung und Körperkoordination stehen nach wie vor im Widerspruch zum mikroskopisch, chemisch und physikalisch analysierbaren Leib, wie ihn die westliche Medizin propagiert. So griff auch Morihei Ueshiba, der von seinen Schülern „OSensei“, was soviel wie Altmeister oder altehrwürdiger Lehrer bedeutet, genannt wurde, auf das so reichhaltige und profunde Wissen der Jahrtausende alten Traditionen zurück, ohne dabei die Bedingungen und Realitäten der Moderne des 20. Jahrhunderts zu negieren.

Geboren am 14. Dezember 1883, als ältester Sohn einer wohlhabenden Familie, muss Morihei bereits im zarten Alter von sieben Jahren auf Geheiß seines Vaters klassische konfuzianische und buddhistische Texte studieren. Eine normale Schulausbildung und eine Handelsstudium folgen. Im russisch-japanischen Krieg, in dem er von 1903 bis 1907 auf Seiten seines Heimatlandes kämpfte, stach er durch besondere Tapferkeit und kämpferische Fähigkeiten hervor, so dass er zum Feldwebel befördert wurde. Trotz dieses scheinbaren Erfolges machte der Krieg einen besonders einschneidenden Eindruck auf ihn. Seine gewaltlosen Techniken, die seinen Kampfstil später prägen sollten, sind deutlich von der Ablehnung gegen kriegerisch brutale Agitation beeinflusst. Von früh auf beschäftigt er sich neben seiner bürgerlichen Vita, die ihn in den 1920er Jahren an sozialen Aufbau- und Bildungsprogrammen der Regierung teilhaben lässt, intensiv mit einer Vielzahl traditioneller Kampfkünste, so vor allem mit unterschiedlichen Stilen des Ju-Jutsu und Judo.

Im Laufe seines Lebens entwickelte er dann seinen persönlichen Stil, der 1930 erstmals als Aikikai in Tokyo institutionalisiert und seit 1941 unter dem Begriff Aikido fortgeführt wurde. Aikido setzt sich aus den drei japanischen Schriftzeichen Ai (Übereinstimmung), Ki (Lebenskraft) und Do (Weg, Harmonie) zusammen und kann mit „Weg der Harmonie der Kräfte“ oder „das Prinzip ideal kombinierter Energie“ übersetzt werden. Die Ausrichtung dieser „Kampfkunst“ auf einfache biokinematische Gesetzmäßigkeiten, das zentrale Medium der Atemkraft und die ausschließlich auf Abwehr ausgerichtete Praxis, dienten vielmehr einer tänzerischen und vitalen Körperharmonie als einer effektiven Gewaltanwendung.

Gerade weil sich Ueshiba an diesen traditionellen Gedanken orientierte, die bereits bei Laotse zweieinhalbtausend Jahre vorher zu finden sind, war er in den vielfältigsten Kampftechniken unerreicht; die japanischen Praktizierenden aller Stile hielten O-Sensei vor allen Dingen gegen Ende seines Lebens für einen Meister, der unbesiegbar war. Kenshiro Abbe, japanischer Judomeister jener Zeit, erinnert sich an seine erste Begegnung mit dem „Meister“ im Personenabteil eines Zuges. Abbe, von Ueshiba provoziert, wollte diesen kraft seiner körperlichen Überlegenheit in die Schranken weisen und nahm das Angebot Ueshibas an, diesem, wenn Abbe doch so stark sei, den Finger zu brechen. Wenn er dies schaffe, würde Ueshiba seine verbalen Sticheleien einstellen und Abbe auf der weiteren Fahrt des Zuges nicht mehr belästigen. Als Abbe den Finger ergriff, gab es aber kein knackendes Geräusch eines brechenden Knochens; stattdessen flog der Judomeister Abbe selbst durch die Luft. Nach diesem Erlebnis wurde er Schüler von O-Sensei.

Ähnliche Beispiele sind bis heute Teil der unvergleichlichen Legende dieses einzigartigen Begründers, der seine Gegner mit dem kleiner Finger und der Konzentration auf seine wahren Potentiale, die Kraft der Atmung und der Körperbeherrschung, am Boden halten konnte. Zahlreiche Zeugnisse seiner Schüler, die von ihren persönlichen Erlebnissen mit Ueshiba berichten, sind von Susan Perry in dem Buch „Erinnerungen an O-Sensei“ festgehalten worden.

Auch als alter Mann war O-Sensei ein außergewöhnlicher Schwertmeister. Selbst seine älteren Schüler waren für ihn nicht schnell genug.

Durch die Authentizität dieser Berichte wird O-Senseis wahre Größe ersichtlich. „Er war nicht nur in Form; er hatte immer die absolut perfekte Haltung. Das war sehr ungewöhnlich. Man sah nie, wie er sich im Dojo irgendwo oder bei irgendjemandem anlehnte oder abstütze.“ Die Originalaussagen in Perrys Buch lassen die Leser förmlich die Kraft und Größe dieses außergewöhnlichen Meisters spüren: „O-Sensei schaute jemanden, den er neu kennen lernte, immer ganz genau an. Seine Augen leuchteten. In diesem Moment wusste er alles über die Person.“

Dass Ueshiba keine transzendente Gestalt war, sondern ein irdisches Wesen, das sich in jedweder Situation zurecht finden konnte, spiegelt sich in der Aussage von Ueshibas Enkelin Moriteru: „Er war ein liebevoller Großvater, der mit mir Sumo machte und Fernsehen schaute.“ Genau diese Fähigkeiten sind es, die ihn auch in der heutigen Zeit zu diesem wichtigen und prädestinierten Sinnbild einer funktionierenden Symbiose zwischen modernen und traditionellen Werten machen. Kurz vor seinem Tode reiste er sogar nach Hawaii, um dort, wie er selber sagte, eine „silberne Brücke“ der Harmonie und Liebe zu präsentieren, die Menschen vereint, welche im Aikido ihr psychophysisches Echo finden.

Im Aikido bedarf es weniger starrer Techniken und fundamentaler Härte. Das Bildnis der Weide, die im Gegensatz zur Eiche, den mörderischen Sturm durch Geschmeidigkeit ausgleichen und abfangen kann, symbolisiert nicht nur die zentrale Bewegungstechnik des Aikido, sondern ist auch ein fundamentales Leitprinzip asiatischer Religionen und Lebensauffassungen. Morihei Ueshiba lebte diese Form der „Handlungsrepräsentanz“ seinen Schülern vor: „O-Sensei sagte niemals Nein, er sagte immer Ja. Er konnte sich immer an die Menschen anpassen. Den ganzen Tag. Er konnte alle Umstände handhaben und war authentisch dabei“, erinnert sich Guji Monetaka Kuki stellvertretend für eine ganze Generation von Adepten. Die zentrale Fähigkeit zur hingebungsvollen Adaption, zum Einfügen in die Kraft des Tao, ist das Erbe, das von seinen Schülern und Studenten bis heute weiter vermittelt wird und das so unvergleichlich machtvoll in jenem berühmten Zitat des Meisters zum Ausdruck kommt: „Wenn dich ein Gegner angreift, schließe ihn ins Herz!“ Genau deshalb ist O-Sensei nicht nur im Herzen seiner Schüler, sondern auch im Herzen der modernen japanischen Kultur und wirkt über deren Grenzen hinaus – zeitlos lebendig.

Sonia Ragan Tanger

BUCH-TIPP
Erinnerungen an O-Sensei
141 Seiten, € 16,95